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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775.

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Vom Schaden der Physiognomik.
fehlbar, oder doch sehr wahrscheinlich, besonders in den ersten Monaten oder Jahren -- und bey
denen, welche sich mit dem leves gustus in göttlichem und menschlichem Wissen begnügen, durch
diese Schrift werden veranlasset werden; ich vergegenwärtige sie mir so sehr, wie möglich, um mich
beständig im mächtigen Triebe zu erhalten, alle meine Kräfte aufzubieten, es so unschädlich, es so
nützlich, wie möglich, zu machen. Diese beständige Vergegenwärtigung aller schlimmen Wirkungen,
die es, wie jede gute, jede rein göttliche Sache so gar, haben muß, ist indessen nicht vermögend, mich
muthlos zu machen, da ich bey jedem Fortschritte meiner Arbeit in der Ueberzeugung fester werde --
"daß ich etwas Gutes schaffe, und daß jeder, jeder Mensch, der mich mit einiger Aufmerksamkeit
"lieset, und nicht das verdorbenste Herz hat, eher besser, als schlimmer werden muß?" --

Dieß überhaupt. Und nun noch nähere Antwort, auf den ersten Vorwurf!

I.

1) Jch lehre nicht eine schwarze Kunst, ein Arkanum, das ich hätte für mich behalten mö-
gen, das tausendmal schadet und einmal nützt, und eben darum ein so selten entdeckbares Arkanum
ist. Jch lehre nur -- oder lieber: ich theile Empfindungen, Beobachtungen und Schlußfolgen
mit, in einer Kenntniß oder Wissenschaft, die die allgemeinste, die alleroffenste, die das Loos und
Theil jedes Menschen ist.

Man vergesse ja nie, daß äußerer Ausdruck ja eben deswegen da ist, daß das Jnnere
draus erkannt werde! Man vergesse ja nicht, daß der Mensch gar nichts mehr wissen müßte noch
dürfte, wenn er nicht aus Aeußerm Jnners sollte erkennen lernen! Man vergesse nicht, daß jeder,
jeder, jeder Mensch, wer er auch sey, mit einem gewissen Grade des physiognomischen Sinnes ge-
boren sey; so gewiß jeder, der keine Mißgeburt ist, zwey Augen im Kopfe hat. Man vergesse ja
nicht, daß immer und immer in allen Zusammenkünften, in allem Verkehr und Umgang der Men-
schen mit einander physiognomisch -- -- nach dunkeln Gefühlen oder klärern Bemerkungen phy-
siognomisch geurtheilt werde! -- Daß also bekanntlich -- -- wenn auch physiognomische Wissen-
schaft niemals in ein System gebracht würde -- -- fast ein jeder, nach dem Maaße, daß er mit vielen
und mancherley Menschen im Verkehr steht, sich auf seine Menschenkenntniß aus dem ersten Anblick
wirklich etwas zu gute thun würde -- und es längstens gethan hat, ehe ich diesen Versuch wagte.

Obs
Y 3

Vom Schaden der Phyſiognomik.
fehlbar, oder doch ſehr wahrſcheinlich, beſonders in den erſten Monaten oder Jahren — und bey
denen, welche ſich mit dem leves guſtus in goͤttlichem und menſchlichem Wiſſen begnuͤgen, durch
dieſe Schrift werden veranlaſſet werden; ich vergegenwaͤrtige ſie mir ſo ſehr, wie moͤglich, um mich
beſtaͤndig im maͤchtigen Triebe zu erhalten, alle meine Kraͤfte aufzubieten, es ſo unſchaͤdlich, es ſo
nuͤtzlich, wie moͤglich, zu machen. Dieſe beſtaͤndige Vergegenwaͤrtigung aller ſchlimmen Wirkungen,
die es, wie jede gute, jede rein goͤttliche Sache ſo gar, haben muß, iſt indeſſen nicht vermoͤgend, mich
muthlos zu machen, da ich bey jedem Fortſchritte meiner Arbeit in der Ueberzeugung feſter werde —
„daß ich etwas Gutes ſchaffe, und daß jeder, jeder Menſch, der mich mit einiger Aufmerkſamkeit
„lieſet, und nicht das verdorbenſte Herz hat, eher beſſer, als ſchlimmer werden muß?“ —

Dieß uͤberhaupt. Und nun noch naͤhere Antwort, auf den erſten Vorwurf!

I.

1) Jch lehre nicht eine ſchwarze Kunſt, ein Arkanum, das ich haͤtte fuͤr mich behalten moͤ-
gen, das tauſendmal ſchadet und einmal nuͤtzt, und eben darum ein ſo ſelten entdeckbares Arkanum
iſt. Jch lehre nur — oder lieber: ich theile Empfindungen, Beobachtungen und Schlußfolgen
mit, in einer Kenntniß oder Wiſſenſchaft, die die allgemeinſte, die alleroffenſte, die das Loos und
Theil jedes Menſchen iſt.

Man vergeſſe ja nie, daß aͤußerer Ausdruck ja eben deswegen da iſt, daß das Jnnere
draus erkannt werde! Man vergeſſe ja nicht, daß der Menſch gar nichts mehr wiſſen muͤßte noch
duͤrfte, wenn er nicht aus Aeußerm Jnners ſollte erkennen lernen! Man vergeſſe nicht, daß jeder,
jeder, jeder Menſch, wer er auch ſey, mit einem gewiſſen Grade des phyſiognomiſchen Sinnes ge-
boren ſey; ſo gewiß jeder, der keine Mißgeburt iſt, zwey Augen im Kopfe hat. Man vergeſſe ja
nicht, daß immer und immer in allen Zuſammenkuͤnften, in allem Verkehr und Umgang der Men-
ſchen mit einander phyſiognomiſch — — nach dunkeln Gefuͤhlen oder klaͤrern Bemerkungen phy-
ſiognomiſch geurtheilt werde! — Daß alſo bekanntlich — — wenn auch phyſiognomiſche Wiſſen-
ſchaft niemals in ein Syſtem gebracht wuͤrde — — faſt ein jeder, nach dem Maaße, daß er mit vielen
und mancherley Menſchen im Verkehr ſteht, ſich auf ſeine Menſchenkenntniß aus dem erſten Anblick
wirklich etwas zu gute thun wuͤrde — und es laͤngſtens gethan hat, ehe ich dieſen Verſuch wagte.

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[165/0233] Vom Schaden der Phyſiognomik. fehlbar, oder doch ſehr wahrſcheinlich, beſonders in den erſten Monaten oder Jahren — und bey denen, welche ſich mit dem leves guſtus in goͤttlichem und menſchlichem Wiſſen begnuͤgen, durch dieſe Schrift werden veranlaſſet werden; ich vergegenwaͤrtige ſie mir ſo ſehr, wie moͤglich, um mich beſtaͤndig im maͤchtigen Triebe zu erhalten, alle meine Kraͤfte aufzubieten, es ſo unſchaͤdlich, es ſo nuͤtzlich, wie moͤglich, zu machen. Dieſe beſtaͤndige Vergegenwaͤrtigung aller ſchlimmen Wirkungen, die es, wie jede gute, jede rein goͤttliche Sache ſo gar, haben muß, iſt indeſſen nicht vermoͤgend, mich muthlos zu machen, da ich bey jedem Fortſchritte meiner Arbeit in der Ueberzeugung feſter werde — „daß ich etwas Gutes ſchaffe, und daß jeder, jeder Menſch, der mich mit einiger Aufmerkſamkeit „lieſet, und nicht das verdorbenſte Herz hat, eher beſſer, als ſchlimmer werden muß?“ — Dieß uͤberhaupt. Und nun noch naͤhere Antwort, auf den erſten Vorwurf! I. 1) Jch lehre nicht eine ſchwarze Kunſt, ein Arkanum, das ich haͤtte fuͤr mich behalten moͤ- gen, das tauſendmal ſchadet und einmal nuͤtzt, und eben darum ein ſo ſelten entdeckbares Arkanum iſt. Jch lehre nur — oder lieber: ich theile Empfindungen, Beobachtungen und Schlußfolgen mit, in einer Kenntniß oder Wiſſenſchaft, die die allgemeinſte, die alleroffenſte, die das Loos und Theil jedes Menſchen iſt. Man vergeſſe ja nie, daß aͤußerer Ausdruck ja eben deswegen da iſt, daß das Jnnere draus erkannt werde! Man vergeſſe ja nicht, daß der Menſch gar nichts mehr wiſſen muͤßte noch duͤrfte, wenn er nicht aus Aeußerm Jnners ſollte erkennen lernen! Man vergeſſe nicht, daß jeder, jeder, jeder Menſch, wer er auch ſey, mit einem gewiſſen Grade des phyſiognomiſchen Sinnes ge- boren ſey; ſo gewiß jeder, der keine Mißgeburt iſt, zwey Augen im Kopfe hat. Man vergeſſe ja nicht, daß immer und immer in allen Zuſammenkuͤnften, in allem Verkehr und Umgang der Men- ſchen mit einander phyſiognomiſch — — nach dunkeln Gefuͤhlen oder klaͤrern Bemerkungen phy- ſiognomiſch geurtheilt werde! — Daß alſo bekanntlich — — wenn auch phyſiognomiſche Wiſſen- ſchaft niemals in ein Syſtem gebracht wuͤrde — — faſt ein jeder, nach dem Maaße, daß er mit vielen und mancherley Menſchen im Verkehr ſteht, ſich auf ſeine Menſchenkenntniß aus dem erſten Anblick wirklich etwas zu gute thun wuͤrde — und es laͤngſtens gethan hat, ehe ich dieſen Verſuch wagte. Obs Y 3

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775, S. 165. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente01_1775/233>, abgerufen am 25.04.2024.