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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775.

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XVII. Fragment. Physiognomische Uebungen
seiner Zunge -- und Herr seiner Geberden; gehorsam -- in einem weit ausgedehntern Sinne,
als eine wörtliche Sittenlehre fordern darf -- gegen jeden Wink der Fürsehung, und jeglichen
Wink eines jeglichen, der nichts Unrechtes will -- Freymüthig, ohne alles rohe, trotzige We-
sen; -- demüthig über alle Vergleichung; ruhiger, wenn man ihn tadelt, als wenn man ihn rühmt;
dankbarer, (nicht mit schmeichelndeln Worten) dankbarer für die Bestrafung, als für das Lob --
gegen keinen Menschen so streng, als gegen sich selber -- und dennoch von aller Aengstlichkeit, al-
lem jammerhaften Wesen unendlich entfernt .... Voll gesunden heitern Verstandes; -- kein
tiefdringendes, kühnes, schöpferisches Genie; aber ein überlegender, nicht langsamer, feinsichtiger
Geist -- -- Von Disputirsucht, Rechthaberey, Prahlerey -- weit entfernt, dennoch fest ge-
nug, seine Sache mit Weisheit und Standhaftigkeit zu behaupten. ....

So weit könnt' ich für seinen Character ziemlich gut stehen -- -- und wie viel Gutes
ließe sich noch sagen, wenn die Sprache Zeichen genug hätte, noch so manche feine Schattirung
seines edlen, reinen, oft an Erhabenheit gränzenden Characters auszudrücken. --

Uebrigens, -- und diese Beobachtung ist für den Physiognomisten nicht gleichgültig --
hat alles an ihm, nicht nur Stimm und Geberde, so gar auch alle Züge seines Gesichtes ein
entscheidendes Gepräge der Gemeine, zu welcher er gehört. Veredelt, verfeinert scheint das Ei-
genthümliche
der Brüderphysiognomie allenthalben durch -- Alles an ihm hat, wenn ich
sagen darf, die Tinktur -- oder, wenn ich es ohne Beleidigung sagen könnte -- alles an ihm ist
Melodie der Brüderschaft.*) -- So viel von dem wirklichen Character. Nun wollen wir
zu einigen physiognomischen Beobachtungen fortgehen.

Physiognomische Bemerkungen.

Jch zweifle nicht, daß das vorüberstehende Profil jedem gesunden Auge nicht sogleich einen
Mann von der äußersten Sanftmuth, Güte, Bescheidenheit und Ruhe darstellen werde.

Man frage jeden Menschen, dem man dieß Bild vorlegt: "Jst dieß ein wilder -- oder
"sanfter Character? Jst das Herrschende seines Characters Wildheit oder Sanftheit? "
Vom Aufgange bis zum Niedergange wird keine vernünftige Menschenseele sagen: "Wildheit!"
Nein! Sanftmuth und Güte wird jeder, der ungeübteste, wie der geübte, darinn finden.

Ferner:
*) Von religiosen Physiognomien g. G. ein besonderes Fragment!

XVII. Fragment. Phyſiognomiſche Uebungen
ſeiner Zunge — und Herr ſeiner Geberden; gehorſam — in einem weit ausgedehntern Sinne,
als eine woͤrtliche Sittenlehre fordern darf — gegen jeden Wink der Fuͤrſehung, und jeglichen
Wink eines jeglichen, der nichts Unrechtes will — Freymuͤthig, ohne alles rohe, trotzige We-
ſen; — demuͤthig uͤber alle Vergleichung; ruhiger, wenn man ihn tadelt, als wenn man ihn ruͤhmt;
dankbarer, (nicht mit ſchmeichelndeln Worten) dankbarer fuͤr die Beſtrafung, als fuͤr das Lob —
gegen keinen Menſchen ſo ſtreng, als gegen ſich ſelber — und dennoch von aller Aengſtlichkeit, al-
lem jammerhaften Weſen unendlich entfernt .... Voll geſunden heitern Verſtandes; — kein
tiefdringendes, kuͤhnes, ſchoͤpferiſches Genie; aber ein uͤberlegender, nicht langſamer, feinſichtiger
Geiſt — — Von Diſputirſucht, Rechthaberey, Prahlerey — weit entfernt, dennoch feſt ge-
nug, ſeine Sache mit Weisheit und Standhaftigkeit zu behaupten. ....

So weit koͤnnt' ich fuͤr ſeinen Character ziemlich gut ſtehen — — und wie viel Gutes
ließe ſich noch ſagen, wenn die Sprache Zeichen genug haͤtte, noch ſo manche feine Schattirung
ſeines edlen, reinen, oft an Erhabenheit graͤnzenden Characters auszudruͤcken. —

Uebrigens, — und dieſe Beobachtung iſt fuͤr den Phyſiognomiſten nicht gleichguͤltig —
hat alles an ihm, nicht nur Stimm und Geberde, ſo gar auch alle Zuͤge ſeines Geſichtes ein
entſcheidendes Gepraͤge der Gemeine, zu welcher er gehoͤrt. Veredelt, verfeinert ſcheint das Ei-
genthuͤmliche
der Bruͤderphyſiognomie allenthalben durch — Alles an ihm hat, wenn ich
ſagen darf, die Tinktur — oder, wenn ich es ohne Beleidigung ſagen koͤnnte — alles an ihm iſt
Melodie der Bruͤderſchaft.*) — So viel von dem wirklichen Character. Nun wollen wir
zu einigen phyſiognomiſchen Beobachtungen fortgehen.

Phyſiognomiſche Bemerkungen.

Jch zweifle nicht, daß das voruͤberſtehende Profil jedem geſunden Auge nicht ſogleich einen
Mann von der aͤußerſten Sanftmuth, Guͤte, Beſcheidenheit und Ruhe darſtellen werde.

Man frage jeden Menſchen, dem man dieß Bild vorlegt: „Jſt dieß ein wilder — oder
ſanfter Character? Jſt das Herrſchende ſeines Characters Wildheit oder Sanftheit?
Vom Aufgange bis zum Niedergange wird keine vernuͤnftige Menſchenſeele ſagen: „Wildheit!“
Nein! Sanftmuth und Guͤte wird jeder, der ungeuͤbteſte, wie der geuͤbte, darinn finden.

Ferner:
*) Von religioſen Phyſiognomien g. G. ein beſonderes Fragment!
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[214/0316] XVII. Fragment. Phyſiognomiſche Uebungen ſeiner Zunge — und Herr ſeiner Geberden; gehorſam — in einem weit ausgedehntern Sinne, als eine woͤrtliche Sittenlehre fordern darf — gegen jeden Wink der Fuͤrſehung, und jeglichen Wink eines jeglichen, der nichts Unrechtes will — Freymuͤthig, ohne alles rohe, trotzige We- ſen; — demuͤthig uͤber alle Vergleichung; ruhiger, wenn man ihn tadelt, als wenn man ihn ruͤhmt; dankbarer, (nicht mit ſchmeichelndeln Worten) dankbarer fuͤr die Beſtrafung, als fuͤr das Lob — gegen keinen Menſchen ſo ſtreng, als gegen ſich ſelber — und dennoch von aller Aengſtlichkeit, al- lem jammerhaften Weſen unendlich entfernt .... Voll geſunden heitern Verſtandes; — kein tiefdringendes, kuͤhnes, ſchoͤpferiſches Genie; aber ein uͤberlegender, nicht langſamer, feinſichtiger Geiſt — — Von Diſputirſucht, Rechthaberey, Prahlerey — weit entfernt, dennoch feſt ge- nug, ſeine Sache mit Weisheit und Standhaftigkeit zu behaupten. .... So weit koͤnnt' ich fuͤr ſeinen Character ziemlich gut ſtehen — — und wie viel Gutes ließe ſich noch ſagen, wenn die Sprache Zeichen genug haͤtte, noch ſo manche feine Schattirung ſeines edlen, reinen, oft an Erhabenheit graͤnzenden Characters auszudruͤcken. — Uebrigens, — und dieſe Beobachtung iſt fuͤr den Phyſiognomiſten nicht gleichguͤltig — hat alles an ihm, nicht nur Stimm und Geberde, ſo gar auch alle Zuͤge ſeines Geſichtes ein entſcheidendes Gepraͤge der Gemeine, zu welcher er gehoͤrt. Veredelt, verfeinert ſcheint das Ei- genthuͤmliche der Bruͤderphyſiognomie allenthalben durch — Alles an ihm hat, wenn ich ſagen darf, die Tinktur — oder, wenn ich es ohne Beleidigung ſagen koͤnnte — alles an ihm iſt Melodie der Bruͤderſchaft. *) — So viel von dem wirklichen Character. Nun wollen wir zu einigen phyſiognomiſchen Beobachtungen fortgehen. Phyſiognomiſche Bemerkungen. Jch zweifle nicht, daß das voruͤberſtehende Profil jedem geſunden Auge nicht ſogleich einen Mann von der aͤußerſten Sanftmuth, Guͤte, Beſcheidenheit und Ruhe darſtellen werde. Man frage jeden Menſchen, dem man dieß Bild vorlegt: „Jſt dieß ein wilder — oder „ſanfter Character? Jſt das Herrſchende ſeines Characters Wildheit oder Sanftheit? “ Vom Aufgange bis zum Niedergange wird keine vernuͤnftige Menſchenſeele ſagen: „Wildheit!“ Nein! Sanftmuth und Guͤte wird jeder, der ungeuͤbteſte, wie der geuͤbte, darinn finden. Ferner: *) Von religioſen Phyſiognomien g. G. ein beſonderes Fragment!

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775, S. 214. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente01_1775/316>, abgerufen am 19.04.2024.