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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775.

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IV. Fragment. Einige Zeugnisse
12.
Gellert.

"Auf den Mienen beruht (in Ansehung der Wohlanständigkeit) unglaublich viel -- --
"Das, was sich der Welt in der Miene am meisten empfiehlt, oder beschwerlich macht, ist der
"Character des Geistes und Herzens, der durch das Aug' und Gesichte redet. Ein heiteres, be-
"scheidenes, sorgenfreyes, edles, sanftmüthiges, großdenkendes Herz, ein Herz voll von Leutse-
"ligkeit, Aufrichtigkeit, und gutem Gewissen, voll von Herrschaft über seine Sinne und Leiden-
"schaften; dieß Herz bildet sich gern in den Gebärden des Gesichtes, und in den Wendungen des
"Körpers ab; dieß Herz erzeugt meistens die bescheidne, gefallende, einnehmende und bezaubernde
"Miene, die gesetzte, edle, erhabne und majestätische Stirne, das Sanfte und Leutselige der Ge-
"sichtszüge, das Aufrichtige und Treuherzige des Auges, den Ernst der Stirne mit Heiterkeit ge-
"mildert, das Freundschaftliche des Blickes mit Schaamhaftigkeit verbunden; und die beste Far-
"be der Gesichter oder die beste Miene ist die gute Farbe des Herzens und Verstandes. Die
"Miene trügt, werden sie sagen? Ja, -- man kann sie nachäffen; aber selten, daß man die
"Nachäffung nicht durch den Zwang verräth; und die Wahrheit in der Miene läßt sich eben so
"leicht unterscheiden, als die Wahrheit eines richtigen und eines bloß schimmernden schönen Ge-
"danken. Die Schminke wird nie die Haut selbst, so fein sie auch aufgetragen ist. Ferner irrt
"mich auch dieses nicht, daß Gesichter mit guten Mienen oft ungesittete Herzen haben. Jch
"schließe vielmehr daraus, daß diese Personen viel natürliche Anlage zu denen Eigenschaften ge-
"habt, deren Merkmaale in ihrer Bildung anzutreffen sind. Endlich mag es wahr seyn, daß
"oft unter einer finstern Miene ein sanftes und frohes Herz, und unter einem drohenden und
"trotzigen Auge ein liebreicher Character verborgen ist. Diese Mißhelligkeit kann entweder
"von übel angenommnen Gewohnheiten der Miene, und einem schlechten Umgange, oder
"daher entstehen, daß der Character, den sie verkündigt, Naturschuld ist, oder von den er-
"sten Jahren an unser eignes böses Werk auf lange Zeit gewesen ist, ob wir es gleich nach-
"her unterdrückt haben.

"Daß
IV. Fragment. Einige Zeugniſſe
12.
Gellert.

„Auf den Mienen beruht (in Anſehung der Wohlanſtaͤndigkeit) unglaublich viel — —
„Das, was ſich der Welt in der Miene am meiſten empfiehlt, oder beſchwerlich macht, iſt der
„Character des Geiſtes und Herzens, der durch das Aug' und Geſichte redet. Ein heiteres, be-
„ſcheidenes, ſorgenfreyes, edles, ſanftmuͤthiges, großdenkendes Herz, ein Herz voll von Leutſe-
„ligkeit, Aufrichtigkeit, und gutem Gewiſſen, voll von Herrſchaft uͤber ſeine Sinne und Leiden-
„ſchaften; dieß Herz bildet ſich gern in den Gebaͤrden des Geſichtes, und in den Wendungen des
„Koͤrpers ab; dieß Herz erzeugt meiſtens die beſcheidne, gefallende, einnehmende und bezaubernde
„Miene, die geſetzte, edle, erhabne und majeſtaͤtiſche Stirne, das Sanfte und Leutſelige der Ge-
„ſichtszuͤge, das Aufrichtige und Treuherzige des Auges, den Ernſt der Stirne mit Heiterkeit ge-
„mildert, das Freundſchaftliche des Blickes mit Schaamhaftigkeit verbunden; und die beſte Far-
„be der Geſichter oder die beſte Miene iſt die gute Farbe des Herzens und Verſtandes. Die
„Miene truͤgt, werden ſie ſagen? Ja, — man kann ſie nachaͤffen; aber ſelten, daß man die
„Nachaͤffung nicht durch den Zwang verraͤth; und die Wahrheit in der Miene laͤßt ſich eben ſo
„leicht unterſcheiden, als die Wahrheit eines richtigen und eines bloß ſchimmernden ſchoͤnen Ge-
„danken. Die Schminke wird nie die Haut ſelbſt, ſo fein ſie auch aufgetragen iſt. Ferner irrt
„mich auch dieſes nicht, daß Geſichter mit guten Mienen oft ungeſittete Herzen haben. Jch
„ſchließe vielmehr daraus, daß dieſe Perſonen viel natuͤrliche Anlage zu denen Eigenſchaften ge-
„habt, deren Merkmaale in ihrer Bildung anzutreffen ſind. Endlich mag es wahr ſeyn, daß
„oft unter einer finſtern Miene ein ſanftes und frohes Herz, und unter einem drohenden und
„trotzigen Auge ein liebreicher Character verborgen iſt. Dieſe Mißhelligkeit kann entweder
„von uͤbel angenommnen Gewohnheiten der Miene, und einem ſchlechten Umgange, oder
„daher entſtehen, daß der Character, den ſie verkuͤndigt, Naturſchuld iſt, oder von den er-
„ſten Jahren an unſer eignes boͤſes Werk auf lange Zeit geweſen iſt, ob wir es gleich nach-
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[30/0054] IV. Fragment. Einige Zeugniſſe 12. Gellert. „Auf den Mienen beruht (in Anſehung der Wohlanſtaͤndigkeit) unglaublich viel — — „Das, was ſich der Welt in der Miene am meiſten empfiehlt, oder beſchwerlich macht, iſt der „Character des Geiſtes und Herzens, der durch das Aug' und Geſichte redet. Ein heiteres, be- „ſcheidenes, ſorgenfreyes, edles, ſanftmuͤthiges, großdenkendes Herz, ein Herz voll von Leutſe- „ligkeit, Aufrichtigkeit, und gutem Gewiſſen, voll von Herrſchaft uͤber ſeine Sinne und Leiden- „ſchaften; dieß Herz bildet ſich gern in den Gebaͤrden des Geſichtes, und in den Wendungen des „Koͤrpers ab; dieß Herz erzeugt meiſtens die beſcheidne, gefallende, einnehmende und bezaubernde „Miene, die geſetzte, edle, erhabne und majeſtaͤtiſche Stirne, das Sanfte und Leutſelige der Ge- „ſichtszuͤge, das Aufrichtige und Treuherzige des Auges, den Ernſt der Stirne mit Heiterkeit ge- „mildert, das Freundſchaftliche des Blickes mit Schaamhaftigkeit verbunden; und die beſte Far- „be der Geſichter oder die beſte Miene iſt die gute Farbe des Herzens und Verſtandes. Die „Miene truͤgt, werden ſie ſagen? Ja, — man kann ſie nachaͤffen; aber ſelten, daß man die „Nachaͤffung nicht durch den Zwang verraͤth; und die Wahrheit in der Miene laͤßt ſich eben ſo „leicht unterſcheiden, als die Wahrheit eines richtigen und eines bloß ſchimmernden ſchoͤnen Ge- „danken. Die Schminke wird nie die Haut ſelbſt, ſo fein ſie auch aufgetragen iſt. Ferner irrt „mich auch dieſes nicht, daß Geſichter mit guten Mienen oft ungeſittete Herzen haben. Jch „ſchließe vielmehr daraus, daß dieſe Perſonen viel natuͤrliche Anlage zu denen Eigenſchaften ge- „habt, deren Merkmaale in ihrer Bildung anzutreffen ſind. Endlich mag es wahr ſeyn, daß „oft unter einer finſtern Miene ein ſanftes und frohes Herz, und unter einem drohenden und „trotzigen Auge ein liebreicher Character verborgen iſt. Dieſe Mißhelligkeit kann entweder „von uͤbel angenommnen Gewohnheiten der Miene, und einem ſchlechten Umgange, oder „daher entſtehen, daß der Character, den ſie verkuͤndigt, Naturſchuld iſt, oder von den er- „ſten Jahren an unſer eignes boͤſes Werk auf lange Zeit geweſen iſt, ob wir es gleich nach- „her unterdruͤckt haben. „Daß

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775, S. 30. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente01_1775/54>, abgerufen am 18.04.2024.