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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 2. Leipzig u. a., 1776.

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Ueber Schattenrisse.

Jch habe die Versuche unzähligemale gemacht, und allemal gefunden, daß die größte
Kunst -- die Natur nicht erreicht; nicht erreicht die Freyheit und Bestimmtheit der Natur --
daß sie immer lockerer oder gespannter ist, als die Natur.

Die Natur ist scharf und frey. Wer ihre Schärfe mehr beobachtet, als ihre Frey-
heit, wird hart -- wer ihre Freyheit mehr studiert, als ihre Schärfe, wird locker und un-
bestimmt.

Der sey mein Mann, der beyde, ihre Schärfe und ihre Freyheit, gleich studiert, gleich
gewissenhaft und unpartheyisch nachahmt.

Jn dieser Absicht, Künstler -- Nachbilder der Menschheit, -- übe dich erst im genauen
Schattenrißziehen -- dann im Nachzeichnen derselben von freyer Hand -- dann vergleiche und
verbessere sie! -- Ohne dieß wirst du das große Arkanum -- Bestimmtheit und Freyheit zu
vereinigen,
schwerlich finden können.

Aus bloßen Schattenrissen hab' ich mehr physiognomische Kenntnisse gesammelt, als aus
allen übrigen Porträten; durch sie mein physiognomisches Gefühl mehr geschärft, als selber durch's
Anschauen der immer sich wandelnden Natur. --

Der Schattenriß faßt die zerstreute Aufmerksamkeit zusammen; concentriert sie bloß auf
Umriß und Gränze, und macht daher die Beobachtung einfacher, leichter, bestimmter; -- die
Beobachtung und hiemit auch die Vergleichung.

Die Physiognomik hat keinen zuverlässigern, unwiderlegbarern Beweis ihrer objektifen
Wahrhaftigkeit, als die Schattenrisse.

Wenn ein Schattenriß, nach dem allgemeinen Gefühl und Urtheil aller Menschen, für
oder wider einen Charakter entscheiden kann -- was wird das volle lebendige Antlitz, was die
ganze physiognomische und pantomimische Menschheit entscheiden? -- wenn Ein Schatten Stim-
me der Wahrheit, Wort Gottes ist, wie wird's das beseelte, von Gottes Licht erfüllte, lebende
Urbild seyn!

"Was
M 2
Ueber Schattenriſſe.

Jch habe die Verſuche unzaͤhligemale gemacht, und allemal gefunden, daß die groͤßte
Kunſt — die Natur nicht erreicht; nicht erreicht die Freyheit und Beſtimmtheit der Natur —
daß ſie immer lockerer oder geſpannter iſt, als die Natur.

Die Natur iſt ſcharf und frey. Wer ihre Schaͤrfe mehr beobachtet, als ihre Frey-
heit, wird hart — wer ihre Freyheit mehr ſtudiert, als ihre Schaͤrfe, wird locker und un-
beſtimmt.

Der ſey mein Mann, der beyde, ihre Schaͤrfe und ihre Freyheit, gleich ſtudiert, gleich
gewiſſenhaft und unpartheyiſch nachahmt.

Jn dieſer Abſicht, Kuͤnſtler — Nachbilder der Menſchheit, — uͤbe dich erſt im genauen
Schattenrißziehen — dann im Nachzeichnen derſelben von freyer Hand — dann vergleiche und
verbeſſere ſie! — Ohne dieß wirſt du das große Arkanum — Beſtimmtheit und Freyheit zu
vereinigen,
ſchwerlich finden koͤnnen.

Aus bloßen Schattenriſſen hab’ ich mehr phyſiognomiſche Kenntniſſe geſammelt, als aus
allen uͤbrigen Portraͤten; durch ſie mein phyſiognomiſches Gefuͤhl mehr geſchaͤrft, als ſelber durch’s
Anſchauen der immer ſich wandelnden Natur. —

Der Schattenriß faßt die zerſtreute Aufmerkſamkeit zuſammen; concentriert ſie bloß auf
Umriß und Graͤnze, und macht daher die Beobachtung einfacher, leichter, beſtimmter; — die
Beobachtung und hiemit auch die Vergleichung.

Die Phyſiognomik hat keinen zuverlaͤſſigern, unwiderlegbarern Beweis ihrer objektifen
Wahrhaftigkeit, als die Schattenriſſe.

Wenn ein Schattenriß, nach dem allgemeinen Gefuͤhl und Urtheil aller Menſchen, fuͤr
oder wider einen Charakter entſcheiden kann — was wird das volle lebendige Antlitz, was die
ganze phyſiognomiſche und pantomimiſche Menſchheit entſcheiden? — wenn Ein Schatten Stim-
me der Wahrheit, Wort Gottes iſt, wie wird’s das beſeelte, von Gottes Licht erfuͤllte, lebende
Urbild ſeyn!

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[91/0119] Ueber Schattenriſſe. Jch habe die Verſuche unzaͤhligemale gemacht, und allemal gefunden, daß die groͤßte Kunſt — die Natur nicht erreicht; nicht erreicht die Freyheit und Beſtimmtheit der Natur — daß ſie immer lockerer oder geſpannter iſt, als die Natur. Die Natur iſt ſcharf und frey. Wer ihre Schaͤrfe mehr beobachtet, als ihre Frey- heit, wird hart — wer ihre Freyheit mehr ſtudiert, als ihre Schaͤrfe, wird locker und un- beſtimmt. Der ſey mein Mann, der beyde, ihre Schaͤrfe und ihre Freyheit, gleich ſtudiert, gleich gewiſſenhaft und unpartheyiſch nachahmt. Jn dieſer Abſicht, Kuͤnſtler — Nachbilder der Menſchheit, — uͤbe dich erſt im genauen Schattenrißziehen — dann im Nachzeichnen derſelben von freyer Hand — dann vergleiche und verbeſſere ſie! — Ohne dieß wirſt du das große Arkanum — Beſtimmtheit und Freyheit zu vereinigen, ſchwerlich finden koͤnnen. Aus bloßen Schattenriſſen hab’ ich mehr phyſiognomiſche Kenntniſſe geſammelt, als aus allen uͤbrigen Portraͤten; durch ſie mein phyſiognomiſches Gefuͤhl mehr geſchaͤrft, als ſelber durch’s Anſchauen der immer ſich wandelnden Natur. — Der Schattenriß faßt die zerſtreute Aufmerkſamkeit zuſammen; concentriert ſie bloß auf Umriß und Graͤnze, und macht daher die Beobachtung einfacher, leichter, beſtimmter; — die Beobachtung und hiemit auch die Vergleichung. Die Phyſiognomik hat keinen zuverlaͤſſigern, unwiderlegbarern Beweis ihrer objektifen Wahrhaftigkeit, als die Schattenriſſe. Wenn ein Schattenriß, nach dem allgemeinen Gefuͤhl und Urtheil aller Menſchen, fuͤr oder wider einen Charakter entſcheiden kann — was wird das volle lebendige Antlitz, was die ganze phyſiognomiſche und pantomimiſche Menſchheit entſcheiden? — wenn Ein Schatten Stim- me der Wahrheit, Wort Gottes iſt, wie wird’s das beſeelte, von Gottes Licht erfuͤllte, lebende Urbild ſeyn! „Was M 2

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 2. Leipzig u. a., 1776, S. 91. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente02_1776/119>, abgerufen am 23.04.2024.