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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 2. Leipzig u. a., 1776.

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Schattenrissen sehen lasse.
Siebente Tafel.
Zwo männliche, zwo weibliche Silhouetten.

Zwo männliche und zwo weibliche Silhouetten, die ich zum Theil des redenden Ausdruckes,
zum Theil des Kontrastes wegen, auf Eine Platte setzen ließ -- und die leuchtender Beweis
sind, wie viel man aus bloßen Schattenrissen sehen könne? -- Zwey ausserordentliche Charaktere;
beyde, schon in der bloßen Silhouette, von der auffallendsten, treffendsten Bedeutung.

Die zwey obern sind von einem großen musikalischen Genie, das mächtige Kraft und
große Kunstfertigkeit mit feiner, inniger Zärtlichkeit verbindet... Ein Jüngling, der sich mir
unter einem Haufen von tausenden sogleich auszeichnete, und gewiß noch in der Musik werden
kann, -- was Goethe im Drama.

Der Stirn Umriß in 2. -- Buchstabe, Charakter, innerer, vordringender, sanfter Kraft!

Die Oberlippe in 1. Buchstabe innigen Gefühldurstes.

Räsonnirende, entziefernde, ordnende, spaltende Denkkraft ist nicht im Urbilde, und
noch weniger im Schatten. -- Desto mehr unbestechliches, zartes, schnelles Wahrheits- und
Menschengefühl.

Aber was soll ich zu den untern Silhouetten sagen? -- und all' Jhr lieben Antiphy-
siognomisten! was wollt Jhr dazu sagen? -- Ein verstandreicheres Gesicht -- -- einen un-
widersprechlich sprechendern Schattenriß hab' ich kaum gesehen. "Tiefe Ueberlegung, Ernst,
"Bedacht, und eine durch Kummer abgehärmte Seele ist, was jeder Mensch beym ersten An-
"blick dieser Dame sieht. -- Aeusserst eindringend, und alles Große und Kleine durch und durch
"blickend ist ihr Verstand; ihre Jmagination nimmt, wenn sie die Feder in der Hand hat,
"die höchsten Flüge des Genies. Sie ist eine sehr große französische Dichterinn. Jm Umgange
"geht jedoch ihre Jmagination einen ganz verschiedenen Gang; denn, wenn sie bey guter Laune
"ist, so ist alles, was sie sagt -- Naivete', und der allerfeinste Witz. Der Styl ihrer Con-

versation
Schattenriſſen ſehen laſſe.
Siebente Tafel.
Zwo maͤnnliche, zwo weibliche Silhouetten.

Zwo maͤnnliche und zwo weibliche Silhouetten, die ich zum Theil des redenden Ausdruckes,
zum Theil des Kontraſtes wegen, auf Eine Platte ſetzen ließ — und die leuchtender Beweis
ſind, wie viel man aus bloßen Schattenriſſen ſehen koͤnne? — Zwey auſſerordentliche Charaktere;
beyde, ſchon in der bloßen Silhouette, von der auffallendſten, treffendſten Bedeutung.

Die zwey obern ſind von einem großen muſikaliſchen Genie, das maͤchtige Kraft und
große Kunſtfertigkeit mit feiner, inniger Zaͤrtlichkeit verbindet... Ein Juͤngling, der ſich mir
unter einem Haufen von tauſenden ſogleich auszeichnete, und gewiß noch in der Muſik werden
kann, — was Goethe im Drama.

Der Stirn Umriß in 2. — Buchſtabe, Charakter, innerer, vordringender, ſanfter Kraft!

Die Oberlippe in 1. Buchſtabe innigen Gefuͤhldurſtes.

Raͤſonnirende, entziefernde, ordnende, ſpaltende Denkkraft iſt nicht im Urbilde, und
noch weniger im Schatten. — Deſto mehr unbeſtechliches, zartes, ſchnelles Wahrheits- und
Menſchengefuͤhl.

Aber was ſoll ich zu den untern Silhouetten ſagen? — und all’ Jhr lieben Antiphy-
ſiognomiſten! was wollt Jhr dazu ſagen? — Ein verſtandreicheres Geſicht — — einen un-
widerſprechlich ſprechendern Schattenriß hab’ ich kaum geſehen. „Tiefe Ueberlegung, Ernſt,
„Bedacht, und eine durch Kummer abgehaͤrmte Seele iſt, was jeder Menſch beym erſten An-
„blick dieſer Dame ſieht. — Aeuſſerſt eindringend, und alles Große und Kleine durch und durch
„blickend iſt ihr Verſtand; ihre Jmagination nimmt, wenn ſie die Feder in der Hand hat,
„die hoͤchſten Fluͤge des Genies. Sie iſt eine ſehr große franzoͤſiſche Dichterinn. Jm Umgange
„geht jedoch ihre Jmagination einen ganz verſchiedenen Gang; denn, wenn ſie bey guter Laune
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[111/0153] Schattenriſſen ſehen laſſe. Siebente Tafel. Zwo maͤnnliche, zwo weibliche Silhouetten. Zwo maͤnnliche und zwo weibliche Silhouetten, die ich zum Theil des redenden Ausdruckes, zum Theil des Kontraſtes wegen, auf Eine Platte ſetzen ließ — und die leuchtender Beweis ſind, wie viel man aus bloßen Schattenriſſen ſehen koͤnne? — Zwey auſſerordentliche Charaktere; beyde, ſchon in der bloßen Silhouette, von der auffallendſten, treffendſten Bedeutung. Die zwey obern ſind von einem großen muſikaliſchen Genie, das maͤchtige Kraft und große Kunſtfertigkeit mit feiner, inniger Zaͤrtlichkeit verbindet... Ein Juͤngling, der ſich mir unter einem Haufen von tauſenden ſogleich auszeichnete, und gewiß noch in der Muſik werden kann, — was Goethe im Drama. Der Stirn Umriß in 2. — Buchſtabe, Charakter, innerer, vordringender, ſanfter Kraft! Die Oberlippe in 1. Buchſtabe innigen Gefuͤhldurſtes. Raͤſonnirende, entziefernde, ordnende, ſpaltende Denkkraft iſt nicht im Urbilde, und noch weniger im Schatten. — Deſto mehr unbeſtechliches, zartes, ſchnelles Wahrheits- und Menſchengefuͤhl. Aber was ſoll ich zu den untern Silhouetten ſagen? — und all’ Jhr lieben Antiphy- ſiognomiſten! was wollt Jhr dazu ſagen? — Ein verſtandreicheres Geſicht — — einen un- widerſprechlich ſprechendern Schattenriß hab’ ich kaum geſehen. „Tiefe Ueberlegung, Ernſt, „Bedacht, und eine durch Kummer abgehaͤrmte Seele iſt, was jeder Menſch beym erſten An- „blick dieſer Dame ſieht. — Aeuſſerſt eindringend, und alles Große und Kleine durch und durch „blickend iſt ihr Verſtand; ihre Jmagination nimmt, wenn ſie die Feder in der Hand hat, „die hoͤchſten Fluͤge des Genies. Sie iſt eine ſehr große franzoͤſiſche Dichterinn. Jm Umgange „geht jedoch ihre Jmagination einen ganz verſchiedenen Gang; denn, wenn ſie bey guter Laune „iſt, ſo iſt alles, was ſie ſagt — Naivete’, und der allerfeinſte Witz. Der Styl ihrer Con- verſation

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 2. Leipzig u. a., 1776, S. 111. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente02_1776/153>, abgerufen am 29.03.2024.