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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 2. Leipzig u. a., 1776.

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XIV. Fragment. Menschenschädel.
verwachsen sind. Von ihrem Daseyn bey Kindern rührt die mögliche Verunstaltung derselben
durch die englische Krankheit, durch Gicht u. s. w. her. *)

II.
Winke für den Physiognomisten.

Der künstliche oder wissenschaftliche Physiognomist sollte seinen ganzen Beobachtungs-
geist auf diese Verunstaltung besonders in der Form des Kopfes richten. Er sollte die erste
Gestalt der Kinder, und die mannichfaltige, verhältnißmäßige Abweichung derselben genau be-
merken, vergleichen, und bestimmen lernen. Er sollte es dahin bringen, beym Anblicke des Kopf-
baues eines neugebohrnen Kindes, eines halbjährigen, jährigen, zweyjährigen Kindes, sagen zu
können -- so wird sich in dem und dem Falle dieses Knochensystem formen und zeichnen; -- sollte
beym Anblicke des Schädels eines lebendigen Menschen von zehen, zwölf, vier und zwanzig Jahren
sagen können -- vor acht, zehen, zwanzig Jahren hatte dieser Schädel eine solche Form, in acht, ze-
hen, zwanzig Jahren wird er, die gewaltsamsten Zufälle ausgenommen, eine solche oder solche Form
haben. Er sollte sich in dem Knaben den Jüngling, im Jünglinge den Mann, und umgekehrt,
im Manne den Jüngling, im Jünglinge den Knaben, im Knaben den Säugling -- und zuletzt
den Embryon in seiner individuellen Form denken können. --

Sollte -- und wird's -- und dann erst stehest du auf eigenen festen Füßen, Physiogno-
mik -- dann erst stehest du tief in die Natur hinabgewurzelt, wie ein Baum, auf dem die Vö-
gel des Himmels nisten, und unter dessen Schatten weise und gute Menschen ruhen, oder --
anbeten -- Jtzt bist du noch ein kleines Senfkorn -- auf die Hand gelegt -- betrachtet --
oder weggeworfen! --

Laßt uns -- Verehrer der Weisheit, die alle Dinge formet und zusammenordnet --
noch etwas bey den Menschenschädeln verweilen.

Jn
*) Dissertatio osteologica de modo, quo ossa se
vicinis accommodant partibus -- sub Praesidio Hi-[Spaltenumbruch]
ron. Dav. Gaubii, a Ioanne Benjamin de Fischer.
Lugduni Batavorum,
1743.
T 2

XIV. Fragment. Menſchenſchaͤdel.
verwachſen ſind. Von ihrem Daſeyn bey Kindern ruͤhrt die moͤgliche Verunſtaltung derſelben
durch die engliſche Krankheit, durch Gicht u. ſ. w. her. *)

II.
Winke fuͤr den Phyſiognomiſten.

Der kuͤnſtliche oder wiſſenſchaftliche Phyſiognomiſt ſollte ſeinen ganzen Beobachtungs-
geiſt auf dieſe Verunſtaltung beſonders in der Form des Kopfes richten. Er ſollte die erſte
Geſtalt der Kinder, und die mannichfaltige, verhaͤltnißmaͤßige Abweichung derſelben genau be-
merken, vergleichen, und beſtimmen lernen. Er ſollte es dahin bringen, beym Anblicke des Kopf-
baues eines neugebohrnen Kindes, eines halbjaͤhrigen, jaͤhrigen, zweyjaͤhrigen Kindes, ſagen zu
koͤnnen — ſo wird ſich in dem und dem Falle dieſes Knochenſyſtem formen und zeichnen; — ſollte
beym Anblicke des Schaͤdels eines lebendigen Menſchen von zehen, zwoͤlf, vier und zwanzig Jahren
ſagen koͤnnen — vor acht, zehen, zwanzig Jahren hatte dieſer Schaͤdel eine ſolche Form, in acht, ze-
hen, zwanzig Jahren wird er, die gewaltſamſten Zufaͤlle ausgenommen, eine ſolche oder ſolche Form
haben. Er ſollte ſich in dem Knaben den Juͤngling, im Juͤnglinge den Mann, und umgekehrt,
im Manne den Juͤngling, im Juͤnglinge den Knaben, im Knaben den Saͤugling — und zuletzt
den Embryon in ſeiner individuellen Form denken koͤnnen. —

Sollte — und wird’s — und dann erſt ſteheſt du auf eigenen feſten Fuͤßen, Phyſiogno-
mik — dann erſt ſteheſt du tief in die Natur hinabgewurzelt, wie ein Baum, auf dem die Voͤ-
gel des Himmels niſten, und unter deſſen Schatten weiſe und gute Menſchen ruhen, oder —
anbeten — Jtzt biſt du noch ein kleines Senfkorn — auf die Hand gelegt — betrachtet —
oder weggeworfen! —

Laßt uns — Verehrer der Weisheit, die alle Dinge formet und zuſammenordnet —
noch etwas bey den Menſchenſchaͤdeln verweilen.

Jn
*) Diſſertatio oſteologica de modo, quo oſſa ſe
vicinis accommodant partibus — ſub Praeſidio Hi-[Spaltenumbruch]
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[147/0207] XIV. Fragment. Menſchenſchaͤdel. verwachſen ſind. Von ihrem Daſeyn bey Kindern ruͤhrt die moͤgliche Verunſtaltung derſelben durch die engliſche Krankheit, durch Gicht u. ſ. w. her. *) II. Winke fuͤr den Phyſiognomiſten. Der kuͤnſtliche oder wiſſenſchaftliche Phyſiognomiſt ſollte ſeinen ganzen Beobachtungs- geiſt auf dieſe Verunſtaltung beſonders in der Form des Kopfes richten. Er ſollte die erſte Geſtalt der Kinder, und die mannichfaltige, verhaͤltnißmaͤßige Abweichung derſelben genau be- merken, vergleichen, und beſtimmen lernen. Er ſollte es dahin bringen, beym Anblicke des Kopf- baues eines neugebohrnen Kindes, eines halbjaͤhrigen, jaͤhrigen, zweyjaͤhrigen Kindes, ſagen zu koͤnnen — ſo wird ſich in dem und dem Falle dieſes Knochenſyſtem formen und zeichnen; — ſollte beym Anblicke des Schaͤdels eines lebendigen Menſchen von zehen, zwoͤlf, vier und zwanzig Jahren ſagen koͤnnen — vor acht, zehen, zwanzig Jahren hatte dieſer Schaͤdel eine ſolche Form, in acht, ze- hen, zwanzig Jahren wird er, die gewaltſamſten Zufaͤlle ausgenommen, eine ſolche oder ſolche Form haben. Er ſollte ſich in dem Knaben den Juͤngling, im Juͤnglinge den Mann, und umgekehrt, im Manne den Juͤngling, im Juͤnglinge den Knaben, im Knaben den Saͤugling — und zuletzt den Embryon in ſeiner individuellen Form denken koͤnnen. — Sollte — und wird’s — und dann erſt ſteheſt du auf eigenen feſten Fuͤßen, Phyſiogno- mik — dann erſt ſteheſt du tief in die Natur hinabgewurzelt, wie ein Baum, auf dem die Voͤ- gel des Himmels niſten, und unter deſſen Schatten weiſe und gute Menſchen ruhen, oder — anbeten — Jtzt biſt du noch ein kleines Senfkorn — auf die Hand gelegt — betrachtet — oder weggeworfen! — Laßt uns — Verehrer der Weisheit, die alle Dinge formet und zuſammenordnet — noch etwas bey den Menſchenſchaͤdeln verweilen. Jn *) Diſſertatio oſteologica de modo, quo oſſa ſe vicinis accommodant partibus — ſub Praeſidio Hi- ron. Dav. Gaubii, a Ioanne Benjamin de Fiſcher. Lugduni Batavorum, 1743. T 2

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 2. Leipzig u. a., 1776, S. 147. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente02_1776/207>, abgerufen am 18.04.2024.