Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 2. Leipzig u. a., 1776.

Bild:
<< vorherige Seite
Drey und zwanzigstes Fragment.
Vögelköpfe.

Auch an den Vögeln läßt sich die wahrheitliebende Natur nicht unbezeugt. Auch diese Ge-
schöpfe haben, sowohl in Vergleichung mit andern Thieren, als in der Vergleichung unter sich
selber -- ihren entscheidenden Charakter.

Durchaus sind die geflügelten Thiere leichter gebaut, als die vierfüßigen; durchaus sind
die Hälse beweglicher, die Köpfe kleiner, der Mund spitzer, die Bekleidung des Leibes reicher und
luftiger.

Um die bekannteste Sache wenigstens anschaubarer zu machen, um wenigstens in der Folge
unsrer Beobachtungen bisweilen darauf verweisen zu können, seyn hier auch ein Paar Tafeln,
wie mich deucht, trefflich gezeichneter Vögelköpfe eingerückt. --

Die Verschiedenheit ihres Charakters ist bekannt. Es fragt sich: -- sind ihre Phy-
siognomien eben so verschieden, als ihre Charaktere?

Der hellen wolkenlosen Sonne kühn entgegen hebt sich der majestätische Adler, schaut weit
umher in unermeßliche Gegenden, und entdeckt in der Tiefe seinen lebendigen Raub -- auf der
Erde, oder auf einem Baum, oder in der Luft schwebend -- stürzt sich herab, ergreift ihn mit
gewaltiger Klaue, und trägt ihn auf einsame Felsen, oder in Thäler mit stolzer Kraft, ihn
noch vollends zu zerreissen und zu verschlingen!

Wer kann ihn anschauen, ohne diese Stärke, diese siegreiche Schnellkraft, diesen stolzen
Grimm, diesen furchtbaren Räuber -- in seiner äussern Gestalt zu erblicken! wie funkelt sein
Aug'! -- Jst's nicht wie der Blick des Blitzes! wer vertraut sich so stolz der blendenden Son-
nenflamme! Betrachte alle Augen bis zu des Maulwurfs herab -- wo findest du diese durch-
dringende blitzende Festigkeit des schnell sich wälzenden Blickes! wo dieß Verhältniß der Augen
zum Lichte -- wo? -- O wie wahr, wie laut spricht die Natur zu dem, der Ohren hat.

Aber nicht nur die Glut des blitzenden Adlerauges spricht innere Wahrheit, auch der obere
Umriß, auch die übergewälzte Stirnhaut -- zeigt seinen Zorn, und seinen Muth.

Die
C c 3
Drey und zwanzigſtes Fragment.
Voͤgelkoͤpfe.

Auch an den Voͤgeln laͤßt ſich die wahrheitliebende Natur nicht unbezeugt. Auch dieſe Ge-
ſchoͤpfe haben, ſowohl in Vergleichung mit andern Thieren, als in der Vergleichung unter ſich
ſelber — ihren entſcheidenden Charakter.

Durchaus ſind die gefluͤgelten Thiere leichter gebaut, als die vierfuͤßigen; durchaus ſind
die Haͤlſe beweglicher, die Koͤpfe kleiner, der Mund ſpitzer, die Bekleidung des Leibes reicher und
luftiger.

Um die bekannteſte Sache wenigſtens anſchaubarer zu machen, um wenigſtens in der Folge
unſrer Beobachtungen bisweilen darauf verweiſen zu koͤnnen, ſeyn hier auch ein Paar Tafeln,
wie mich deucht, trefflich gezeichneter Voͤgelkoͤpfe eingeruͤckt. —

Die Verſchiedenheit ihres Charakters iſt bekannt. Es fragt ſich: — ſind ihre Phy-
ſiognomien eben ſo verſchieden, als ihre Charaktere?

Der hellen wolkenloſen Sonne kuͤhn entgegen hebt ſich der majeſtaͤtiſche Adler, ſchaut weit
umher in unermeßliche Gegenden, und entdeckt in der Tiefe ſeinen lebendigen Raub — auf der
Erde, oder auf einem Baum, oder in der Luft ſchwebend — ſtuͤrzt ſich herab, ergreift ihn mit
gewaltiger Klaue, und traͤgt ihn auf einſame Felſen, oder in Thaͤler mit ſtolzer Kraft, ihn
noch vollends zu zerreiſſen und zu verſchlingen!

Wer kann ihn anſchauen, ohne dieſe Staͤrke, dieſe ſiegreiche Schnellkraft, dieſen ſtolzen
Grimm, dieſen furchtbaren Raͤuber — in ſeiner aͤuſſern Geſtalt zu erblicken! wie funkelt ſein
Aug’! — Jſt’s nicht wie der Blick des Blitzes! wer vertraut ſich ſo ſtolz der blendenden Son-
nenflamme! Betrachte alle Augen bis zu des Maulwurfs herab — wo findeſt du dieſe durch-
dringende blitzende Feſtigkeit des ſchnell ſich waͤlzenden Blickes! wo dieß Verhaͤltniß der Augen
zum Lichte — wo? — O wie wahr, wie laut ſpricht die Natur zu dem, der Ohren hat.

Aber nicht nur die Glut des blitzenden Adlerauges ſpricht innere Wahrheit, auch der obere
Umriß, auch die uͤbergewaͤlzte Stirnhaut — zeigt ſeinen Zorn, und ſeinen Muth.

Die
C c 3
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0327" n="205"/>
        <div n="2">
          <head> <hi rendition="#b"> <hi rendition="#g">Drey und zwanzig&#x017F;tes Fragment.<lb/>
Vo&#x0364;gelko&#x0364;pfe.</hi> </hi> </head><lb/>
          <p><hi rendition="#in">A</hi>uch an den <hi rendition="#fr">Vo&#x0364;geln</hi> la&#x0364;ßt &#x017F;ich die wahrheitliebende Natur nicht unbezeugt. Auch die&#x017F;e Ge-<lb/>
&#x017F;cho&#x0364;pfe haben, &#x017F;owohl in Vergleichung mit andern Thieren, als in der Vergleichung unter &#x017F;ich<lb/>
&#x017F;elber &#x2014; ihren ent&#x017F;cheidenden Charakter.</p><lb/>
          <p>Durchaus &#x017F;ind die geflu&#x0364;gelten Thiere leichter gebaut, als die vierfu&#x0364;ßigen; durchaus &#x017F;ind<lb/>
die Ha&#x0364;l&#x017F;e beweglicher, die Ko&#x0364;pfe kleiner, der Mund &#x017F;pitzer, die Bekleidung des Leibes reicher und<lb/>
luftiger.</p><lb/>
          <p>Um die bekannte&#x017F;te Sache wenig&#x017F;tens an&#x017F;chaubarer zu machen, um wenig&#x017F;tens in der Folge<lb/>
un&#x017F;rer Beobachtungen bisweilen darauf verwei&#x017F;en zu ko&#x0364;nnen, &#x017F;eyn hier auch ein Paar Tafeln,<lb/>
wie mich deucht, trefflich gezeichneter Vo&#x0364;gelko&#x0364;pfe eingeru&#x0364;ckt. &#x2014;</p><lb/>
          <p>Die Ver&#x017F;chiedenheit ihres Charakters i&#x017F;t bekannt. Es fragt &#x017F;ich: &#x2014; &#x017F;ind ihre Phy-<lb/>
&#x017F;iognomien eben &#x017F;o ver&#x017F;chieden, als ihre Charaktere?</p><lb/>
          <p>Der hellen wolkenlo&#x017F;en Sonne ku&#x0364;hn entgegen hebt &#x017F;ich der maje&#x017F;ta&#x0364;ti&#x017F;che Adler, &#x017F;chaut weit<lb/>
umher in unermeßliche Gegenden, und entdeckt in der Tiefe &#x017F;einen lebendigen Raub &#x2014; auf der<lb/>
Erde, oder auf einem Baum, oder in der Luft &#x017F;chwebend &#x2014; &#x017F;tu&#x0364;rzt &#x017F;ich herab, ergreift ihn mit<lb/>
gewaltiger Klaue, und tra&#x0364;gt ihn auf ein&#x017F;ame Fel&#x017F;en, oder in Tha&#x0364;ler mit &#x017F;tolzer Kraft, ihn<lb/>
noch vollends zu zerrei&#x017F;&#x017F;en und zu ver&#x017F;chlingen!</p><lb/>
          <p>Wer kann ihn an&#x017F;chauen, ohne die&#x017F;e Sta&#x0364;rke, die&#x017F;e &#x017F;iegreiche Schnellkraft, die&#x017F;en &#x017F;tolzen<lb/>
Grimm, die&#x017F;en furchtbaren Ra&#x0364;uber &#x2014; in &#x017F;einer a&#x0364;u&#x017F;&#x017F;ern Ge&#x017F;talt zu erblicken! wie funkelt &#x017F;ein<lb/>
Aug&#x2019;! &#x2014; J&#x017F;t&#x2019;s nicht wie der Blick des Blitzes! wer vertraut &#x017F;ich &#x017F;o &#x017F;tolz der blendenden Son-<lb/>
nenflamme! Betrachte alle Augen bis zu des Maulwurfs herab &#x2014; wo finde&#x017F;t du die&#x017F;e durch-<lb/>
dringende blitzende Fe&#x017F;tigkeit des &#x017F;chnell &#x017F;ich wa&#x0364;lzenden Blickes! wo <hi rendition="#fr">dieß</hi> Verha&#x0364;ltniß der Augen<lb/>
zum Lichte &#x2014; wo? &#x2014; O wie wahr, wie laut &#x017F;pricht die Natur zu dem, der Ohren hat.</p><lb/>
          <p>Aber nicht nur die Glut des blitzenden Adlerauges &#x017F;pricht innere Wahrheit, auch der obere<lb/>
Umriß, auch die u&#x0364;bergewa&#x0364;lzte Stirnhaut &#x2014; zeigt &#x017F;einen Zorn, und &#x017F;einen Muth.</p><lb/>
          <fw place="bottom" type="sig">C c 3</fw>
          <fw place="bottom" type="catch">Die</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[205/0327] Drey und zwanzigſtes Fragment. Voͤgelkoͤpfe. Auch an den Voͤgeln laͤßt ſich die wahrheitliebende Natur nicht unbezeugt. Auch dieſe Ge- ſchoͤpfe haben, ſowohl in Vergleichung mit andern Thieren, als in der Vergleichung unter ſich ſelber — ihren entſcheidenden Charakter. Durchaus ſind die gefluͤgelten Thiere leichter gebaut, als die vierfuͤßigen; durchaus ſind die Haͤlſe beweglicher, die Koͤpfe kleiner, der Mund ſpitzer, die Bekleidung des Leibes reicher und luftiger. Um die bekannteſte Sache wenigſtens anſchaubarer zu machen, um wenigſtens in der Folge unſrer Beobachtungen bisweilen darauf verweiſen zu koͤnnen, ſeyn hier auch ein Paar Tafeln, wie mich deucht, trefflich gezeichneter Voͤgelkoͤpfe eingeruͤckt. — Die Verſchiedenheit ihres Charakters iſt bekannt. Es fragt ſich: — ſind ihre Phy- ſiognomien eben ſo verſchieden, als ihre Charaktere? Der hellen wolkenloſen Sonne kuͤhn entgegen hebt ſich der majeſtaͤtiſche Adler, ſchaut weit umher in unermeßliche Gegenden, und entdeckt in der Tiefe ſeinen lebendigen Raub — auf der Erde, oder auf einem Baum, oder in der Luft ſchwebend — ſtuͤrzt ſich herab, ergreift ihn mit gewaltiger Klaue, und traͤgt ihn auf einſame Felſen, oder in Thaͤler mit ſtolzer Kraft, ihn noch vollends zu zerreiſſen und zu verſchlingen! Wer kann ihn anſchauen, ohne dieſe Staͤrke, dieſe ſiegreiche Schnellkraft, dieſen ſtolzen Grimm, dieſen furchtbaren Raͤuber — in ſeiner aͤuſſern Geſtalt zu erblicken! wie funkelt ſein Aug’! — Jſt’s nicht wie der Blick des Blitzes! wer vertraut ſich ſo ſtolz der blendenden Son- nenflamme! Betrachte alle Augen bis zu des Maulwurfs herab — wo findeſt du dieſe durch- dringende blitzende Feſtigkeit des ſchnell ſich waͤlzenden Blickes! wo dieß Verhaͤltniß der Augen zum Lichte — wo? — O wie wahr, wie laut ſpricht die Natur zu dem, der Ohren hat. Aber nicht nur die Glut des blitzenden Adlerauges ſpricht innere Wahrheit, auch der obere Umriß, auch die uͤbergewaͤlzte Stirnhaut — zeigt ſeinen Zorn, und ſeinen Muth. Die C c 3

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente02_1776
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente02_1776/327
Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 2. Leipzig u. a., 1776, S. 205. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente02_1776/327>, abgerufen am 29.03.2024.