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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 2. Leipzig u. a., 1776.

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Gelehrte, Denker.
Vierte und Fünfte Tafel. Erasmus.

Wir haben hier fünf Köpfe von Erasmus, *) davon vermuthlich alle, gewiß vier, Copien nach
Holbein, seinem Freunde, sind.

Das Gesicht des Erasmus ist, meines Bedünkens, eins der sprechendsten, der entschei-
dendsten Gesichter, die ich kenne.

So verschieden diese Gesichter sind, haben sie dennoch alle mit einander gemein.

a) Die furchtsame, zaghafte, bedächtliche Stellung.
b) Das Launigte im Munde.
c) Das Feine im Blicke.

Aber dann sonst wie verschieden!

1) Auf der ersten Tafel -- alles, wie viel flacher -- und also fader! -- wie viel stumpfer,
unbestimmter -- der Mund insonderheit, wie viel leerer, als aller übrigen! Das Nasenloch, wie
athemlos ...
2) Auf der ersten Tafel, schon wie viel feiner, bey aller Grobheit der Umrisse. -- Man
vergleiche nur Nase und Nase. --
3) Noch feiner, kleineckigter.

Aber nun die zween übrigen auf der zweyten Tafel, mit der zartesten Nadel, mit dem äusser-
sten Fleiße gezeichnet; wie voll des kräftigsten Ausdruckes!

So viel Verschiedenheit in beyden, in beyden dennoch derselbe Ausdruck von Mannich-
faltigkeit der Gedanken, Furchtsamkeit, Naivete, Laune.

Nirgends kein Zug vordringender, zerstörender Kühnheit.

Jm Auge die ruhige Heiterkeit des feinen in sich verschlingenden Beobachters.

Dieß halb geschlossene Auge, von dieser Tiefe, diesem Schnitte; sicherlich allemal das Auge
feiner und kluger Planmacher.

Die Nase, ich kann sie durch keinen Ausdruck besser bezeichnen, als durch Beschnittenheit,
ist, allen meinen, niemals widersprochenen, Beobachtungen zufolge, sicherlich des Feindenkenden
und Zartfühlenden. Man suche den Kopf mit einer solchen Nase, der natürlicherweise sich nicht

unter
*) Die erste Tafel ist die mit den drey Köpfen; die mit zween die zweyte.
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Gelehrte, Denker.
Vierte und Fuͤnfte Tafel. Eraſmus.

Wir haben hier fuͤnf Koͤpfe von Eraſmus, *) davon vermuthlich alle, gewiß vier, Copien nach
Holbein, ſeinem Freunde, ſind.

Das Geſicht des Eraſmus iſt, meines Beduͤnkens, eins der ſprechendſten, der entſchei-
dendſten Geſichter, die ich kenne.

So verſchieden dieſe Geſichter ſind, haben ſie dennoch alle mit einander gemein.

a) Die furchtſame, zaghafte, bedaͤchtliche Stellung.
b) Das Launigte im Munde.
c) Das Feine im Blicke.

Aber dann ſonſt wie verſchieden!

1) Auf der erſten Tafel — alles, wie viel flacher — und alſo fader! — wie viel ſtumpfer,
unbeſtimmter — der Mund inſonderheit, wie viel leerer, als aller uͤbrigen! Das Naſenloch, wie
athemlos ...
2) Auf der erſten Tafel, ſchon wie viel feiner, bey aller Grobheit der Umriſſe. — Man
vergleiche nur Naſe und Naſe. —
3) Noch feiner, kleineckigter.

Aber nun die zween uͤbrigen auf der zweyten Tafel, mit der zarteſten Nadel, mit dem aͤuſſer-
ſten Fleiße gezeichnet; wie voll des kraͤftigſten Ausdruckes!

So viel Verſchiedenheit in beyden, in beyden dennoch derſelbe Ausdruck von Mannich-
faltigkeit der Gedanken, Furchtſamkeit, Naivete, Laune.

Nirgends kein Zug vordringender, zerſtoͤrender Kuͤhnheit.

Jm Auge die ruhige Heiterkeit des feinen in ſich verſchlingenden Beobachters.

Dieß halb geſchloſſene Auge, von dieſer Tiefe, dieſem Schnitte; ſicherlich allemal das Auge
feiner und kluger Planmacher.

Die Naſe, ich kann ſie durch keinen Ausdruck beſſer bezeichnen, als durch Beſchnittenheit,
iſt, allen meinen, niemals widerſprochenen, Beobachtungen zufolge, ſicherlich des Feindenkenden
und Zartfuͤhlenden. Man ſuche den Kopf mit einer ſolchen Naſe, der natuͤrlicherweiſe ſich nicht

unter
*) Die erſte Tafel iſt die mit den drey Koͤpfen; die mit zween die zweyte.
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[267/0473] Gelehrte, Denker. Vierte und Fuͤnfte Tafel. Eraſmus. Wir haben hier fuͤnf Koͤpfe von Eraſmus, *) davon vermuthlich alle, gewiß vier, Copien nach Holbein, ſeinem Freunde, ſind. Das Geſicht des Eraſmus iſt, meines Beduͤnkens, eins der ſprechendſten, der entſchei- dendſten Geſichter, die ich kenne. So verſchieden dieſe Geſichter ſind, haben ſie dennoch alle mit einander gemein. a) Die furchtſame, zaghafte, bedaͤchtliche Stellung. b) Das Launigte im Munde. c) Das Feine im Blicke. Aber dann ſonſt wie verſchieden! 1) Auf der erſten Tafel — alles, wie viel flacher — und alſo fader! — wie viel ſtumpfer, unbeſtimmter — der Mund inſonderheit, wie viel leerer, als aller uͤbrigen! Das Naſenloch, wie athemlos ... 2) Auf der erſten Tafel, ſchon wie viel feiner, bey aller Grobheit der Umriſſe. — Man vergleiche nur Naſe und Naſe. — 3) Noch feiner, kleineckigter. Aber nun die zween uͤbrigen auf der zweyten Tafel, mit der zarteſten Nadel, mit dem aͤuſſer- ſten Fleiße gezeichnet; wie voll des kraͤftigſten Ausdruckes! So viel Verſchiedenheit in beyden, in beyden dennoch derſelbe Ausdruck von Mannich- faltigkeit der Gedanken, Furchtſamkeit, Naivete, Laune. Nirgends kein Zug vordringender, zerſtoͤrender Kuͤhnheit. Jm Auge die ruhige Heiterkeit des feinen in ſich verſchlingenden Beobachters. Dieß halb geſchloſſene Auge, von dieſer Tiefe, dieſem Schnitte; ſicherlich allemal das Auge feiner und kluger Planmacher. Die Naſe, ich kann ſie durch keinen Ausdruck beſſer bezeichnen, als durch Beſchnittenheit, iſt, allen meinen, niemals widerſprochenen, Beobachtungen zufolge, ſicherlich des Feindenkenden und Zartfuͤhlenden. Man ſuche den Kopf mit einer ſolchen Naſe, der natuͤrlicherweiſe ſich nicht unter *) Die erſte Tafel iſt die mit den drey Koͤpfen; die mit zween die zweyte. Ll 2

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 2. Leipzig u. a., 1776, S. 267. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente02_1776/473>, abgerufen am 19.04.2024.