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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 2. Leipzig u. a., 1776.

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XXXIV. Fragment.

Dieser spitzige Winkel, dieser Buchstabe von herrschender Klugheit (bey keinen wider-
sprechenden Zügen) --

Wie kontrastirend, wie zusammen unmöglich mit dem untern Theile des Gesichtes! ...

O ihr Zeichner, o ihr Mahler -- wie lange werd' ich Euch noch umsonst zuschreyen --
"Glaubet nicht die Natur zu ehren, wenn ihr sie stümpfet, abschleifet, oder wie ihr saget: ihr
"ihre Härte benehmet.
Die Natur ist nicht hart; sie ist frey, aber sie ist bestimmt. Jhre Be-
"stimmtheit abschleifen, heißt, ihre Kraft abschleifen."

Jhr meynet dem Gesichte Ehre zu erweisen, wenn Jhr's rundet, und ihr raubt ihm da-
durch seine Urkraft.

So in dem Gesichte, das wir vor uns haben, das jedermann kenntlich nennt, das äusserst
kenntlich ist -- und dennoch von seinem Grundcharakter, innere Festigkeit, so viel verloren
hat.

Doch nicht alles verloren -- und nicht alles verlieren konnte.

Der größte Verläumder kann in gewissen Charaktern gewisse Kräfte nicht weg verläum-
den -- der zaghafteste Mahler gewissen Gesichtern nicht allen Ausdruck rauben. Abermal so bey
unserm Bilde.

Muth, und mehr ordnenden, setzenden, reihenden, scheidenden, als schaffenden Sinn --

Mehr Verstand, als Dichtungskraft; mehr Geschmack und kritischen Scharfsinn, als zärt-
lich schmachtende Empfindsamkeit --

Dieß alles glaub' ich im treffenden, schauenden, klein scheinenden, aber nicht kleinlichen
Auge, und in der schiefen, festen, über den Augen nicht sehr vordringenden Stirne zu erblicken.

Kraft, Geschäfftsthätigkeit, Thatweisheit in der feuervollen, prägnanten, unschlaffen und
unbeschnittenen Nase.

Leutseligkeit, höfliche Dienstgefälligkeit im Munde.

Cholerisches Temperament in allem, besonders im Untertheile des Gesichtes und dem vol-
len, gedrängten, krausen Haarwuchse.

Alles zeigt, daß sein Symbol nicht Wort und erschlichenes Ordensband, daß es Wahr-
heit, Kraft, That war: --

Sapere
XXXIV. Fragment.

Dieſer ſpitzige Winkel, dieſer Buchſtabe von herrſchender Klugheit (bey keinen wider-
ſprechenden Zuͤgen) —

Wie kontraſtirend, wie zuſammen unmoͤglich mit dem untern Theile des Geſichtes! ...

O ihr Zeichner, o ihr Mahler — wie lange werd’ ich Euch noch umſonſt zuſchreyen —
„Glaubet nicht die Natur zu ehren, wenn ihr ſie ſtuͤmpfet, abſchleifet, oder wie ihr ſaget: ihr
„ihre Haͤrte benehmet.
Die Natur iſt nicht hart; ſie iſt frey, aber ſie iſt beſtimmt. Jhre Be-
„ſtimmtheit abſchleifen, heißt, ihre Kraft abſchleifen.“

Jhr meynet dem Geſichte Ehre zu erweiſen, wenn Jhr’s rundet, und ihr raubt ihm da-
durch ſeine Urkraft.

So in dem Geſichte, das wir vor uns haben, das jedermann kenntlich nennt, das aͤuſſerſt
kenntlich iſt — und dennoch von ſeinem Grundcharakter, innere Feſtigkeit, ſo viel verloren
hat.

Doch nicht alles verloren — und nicht alles verlieren konnte.

Der groͤßte Verlaͤumder kann in gewiſſen Charaktern gewiſſe Kraͤfte nicht weg verlaͤum-
den — der zaghafteſte Mahler gewiſſen Geſichtern nicht allen Ausdruck rauben. Abermal ſo bey
unſerm Bilde.

Muth, und mehr ordnenden, ſetzenden, reihenden, ſcheidenden, als ſchaffenden Sinn —

Mehr Verſtand, als Dichtungskraft; mehr Geſchmack und kritiſchen Scharfſinn, als zaͤrt-
lich ſchmachtende Empfindſamkeit —

Dieß alles glaub’ ich im treffenden, ſchauenden, klein ſcheinenden, aber nicht kleinlichen
Auge, und in der ſchiefen, feſten, uͤber den Augen nicht ſehr vordringenden Stirne zu erblicken.

Kraft, Geſchaͤfftsthaͤtigkeit, Thatweisheit in der feuervollen, praͤgnanten, unſchlaffen und
unbeſchnittenen Naſe.

Leutſeligkeit, hoͤfliche Dienſtgefaͤlligkeit im Munde.

Choleriſches Temperament in allem, beſonders im Untertheile des Geſichtes und dem vol-
len, gedraͤngten, krauſen Haarwuchſe.

Alles zeigt, daß ſein Symbol nicht Wort und erſchlichenes Ordensband, daß es Wahr-
heit, Kraft, That war: —

Sapere
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[270/0478] XXXIV. Fragment. Dieſer ſpitzige Winkel, dieſer Buchſtabe von herrſchender Klugheit (bey keinen wider- ſprechenden Zuͤgen) — Wie kontraſtirend, wie zuſammen unmoͤglich mit dem untern Theile des Geſichtes! ... O ihr Zeichner, o ihr Mahler — wie lange werd’ ich Euch noch umſonſt zuſchreyen — „Glaubet nicht die Natur zu ehren, wenn ihr ſie ſtuͤmpfet, abſchleifet, oder wie ihr ſaget: ihr „ihre Haͤrte benehmet. Die Natur iſt nicht hart; ſie iſt frey, aber ſie iſt beſtimmt. Jhre Be- „ſtimmtheit abſchleifen, heißt, ihre Kraft abſchleifen.“ Jhr meynet dem Geſichte Ehre zu erweiſen, wenn Jhr’s rundet, und ihr raubt ihm da- durch ſeine Urkraft. So in dem Geſichte, das wir vor uns haben, das jedermann kenntlich nennt, das aͤuſſerſt kenntlich iſt — und dennoch von ſeinem Grundcharakter, innere Feſtigkeit, ſo viel verloren hat. Doch nicht alles verloren — und nicht alles verlieren konnte. Der groͤßte Verlaͤumder kann in gewiſſen Charaktern gewiſſe Kraͤfte nicht weg verlaͤum- den — der zaghafteſte Mahler gewiſſen Geſichtern nicht allen Ausdruck rauben. Abermal ſo bey unſerm Bilde. Muth, und mehr ordnenden, ſetzenden, reihenden, ſcheidenden, als ſchaffenden Sinn — Mehr Verſtand, als Dichtungskraft; mehr Geſchmack und kritiſchen Scharfſinn, als zaͤrt- lich ſchmachtende Empfindſamkeit — Dieß alles glaub’ ich im treffenden, ſchauenden, klein ſcheinenden, aber nicht kleinlichen Auge, und in der ſchiefen, feſten, uͤber den Augen nicht ſehr vordringenden Stirne zu erblicken. Kraft, Geſchaͤfftsthaͤtigkeit, Thatweisheit in der feuervollen, praͤgnanten, unſchlaffen und unbeſchnittenen Naſe. Leutſeligkeit, hoͤfliche Dienſtgefaͤlligkeit im Munde. Choleriſches Temperament in allem, beſonders im Untertheile des Geſichtes und dem vol- len, gedraͤngten, krauſen Haarwuchſe. Alles zeigt, daß ſein Symbol nicht Wort und erſchlichenes Ordensband, daß es Wahr- heit, Kraft, That war: — Sapere

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 2. Leipzig u. a., 1776, S. 270. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente02_1776/478>, abgerufen am 28.03.2024.