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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 2. Leipzig u. a., 1776.

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Religiöse, Schwärmer, Theosophen, Seher.
Zweyte Tafel. M. Theosophus.

Jch habe schon bemerkt, daß viele mystische, theosophische Köpfe länglicht, und daß sie flach und
lang behaart sind. Hier ein neues Beyspiel.

Nicht jeder länglichte Kopf mit zarten langen Haaren ist von diesem Charakter. --

Der Mann, den wir vor uns haben, ist ein sehr verständiger, ganz von sich selbst gelehr-
ter, forschender, origineller, erfindsamer Kopf, der beynahe zu allen wichtigen Entdeckungen der
größten Scheidekünstler durch eignes Nachdenken, Nachforschen, Versuchen gelangt ist -- Ein tie-
fer Verehrer von Jakob Böhm, und nicht ein dummer Nachsprecher -- ein Mann, der mit Ver-
nunft selbst sprechen und widersprechen kann -- kalt, trocken, einfältig, gerade, jedoch nicht ohne
Kunst und Prätension. Dieß zeigt sich besonders in dem etwas angestrengten, treffenden Blicke --
besonders wie er in dem obern Umrisse erscheint. Dieser Blick ist vollkommen harmonisch mit der
Trockenheit und Verschlossenheit, die den Charakter des ganzen Gesichts ausmacht.

Man wird vielleicht bemerken wollen, daß dieß Gesicht eins von denen sey, die einigermas-
sen ins Affengeschlecht sehen. Es ist nicht ganz zu läugnen -- zumal das breite anliegende Ohr
auch noch die Aehnlichkeit vermehren hilft. Aber die oben gemachten drey Anmerkungen können
dann wiederholt werden.

Einmal überhaupt, daß bey aller etwaniger Aehnlichkeit die Unähnlichkeit weit größer ist.

Zweytens, daß gerade die Gesichter, an denen man einige Aehnlichkeit mit den Affen be-
merken will, hohe Stirnen haben, sich mithin darinn in dem wesentlichsten Theile vom Affenge-
schlechte unterscheiden.

Drittens, daß diese Menschen von den thätigsten, erfindsamsten, brauchbarsten und ge-
scheutesten sind. Sie haben die Behendigkeit, Listigkeit, Anstelligkeit *) -- der Affen. Aber die
Affen, denen ihre Stirn und ihr Hirn fehlt, haben nicht ihre Vernunft.

Noch ein Wort von der Manier des untern Bildes. Mich dünkt, so künstlich und unna-
türlich sie an sich ist, sie ist natürlicher, sanfter, und in einiger Entfernung wahrer, als die dop-
pelte Schrafur.

Dritte
*) Ein Schweizerwort: die Geschicklichkeit, mancher-
ley Dinge gut einzurichten und anzuordnen, und sich in
[Spaltenumbruch] alles leicht zu finden. Wer diese Geschicklichkeit hat,
heißt ein anstelliger Mensch.
N n 2
Religioͤſe, Schwaͤrmer, Theoſophen, Seher.
Zweyte Tafel. M. Theoſophus.

Jch habe ſchon bemerkt, daß viele myſtiſche, theoſophiſche Koͤpfe laͤnglicht, und daß ſie flach und
lang behaart ſind. Hier ein neues Beyſpiel.

Nicht jeder laͤnglichte Kopf mit zarten langen Haaren iſt von dieſem Charakter. —

Der Mann, den wir vor uns haben, iſt ein ſehr verſtaͤndiger, ganz von ſich ſelbſt gelehr-
ter, forſchender, origineller, erfindſamer Kopf, der beynahe zu allen wichtigen Entdeckungen der
groͤßten Scheidekuͤnſtler durch eignes Nachdenken, Nachforſchen, Verſuchen gelangt iſt — Ein tie-
fer Verehrer von Jakob Boͤhm, und nicht ein dummer Nachſprecher — ein Mann, der mit Ver-
nunft ſelbſt ſprechen und widerſprechen kann — kalt, trocken, einfaͤltig, gerade, jedoch nicht ohne
Kunſt und Praͤtenſion. Dieß zeigt ſich beſonders in dem etwas angeſtrengten, treffenden Blicke —
beſonders wie er in dem obern Umriſſe erſcheint. Dieſer Blick iſt vollkommen harmoniſch mit der
Trockenheit und Verſchloſſenheit, die den Charakter des ganzen Geſichts ausmacht.

Man wird vielleicht bemerken wollen, daß dieß Geſicht eins von denen ſey, die einigermaſ-
ſen ins Affengeſchlecht ſehen. Es iſt nicht ganz zu laͤugnen — zumal das breite anliegende Ohr
auch noch die Aehnlichkeit vermehren hilft. Aber die oben gemachten drey Anmerkungen koͤnnen
dann wiederholt werden.

Einmal uͤberhaupt, daß bey aller etwaniger Aehnlichkeit die Unaͤhnlichkeit weit groͤßer iſt.

Zweytens, daß gerade die Geſichter, an denen man einige Aehnlichkeit mit den Affen be-
merken will, hohe Stirnen haben, ſich mithin darinn in dem weſentlichſten Theile vom Affenge-
ſchlechte unterſcheiden.

Drittens, daß dieſe Menſchen von den thaͤtigſten, erfindſamſten, brauchbarſten und ge-
ſcheuteſten ſind. Sie haben die Behendigkeit, Liſtigkeit, Anſtelligkeit *) — der Affen. Aber die
Affen, denen ihre Stirn und ihr Hirn fehlt, haben nicht ihre Vernunft.

Noch ein Wort von der Manier des untern Bildes. Mich duͤnkt, ſo kuͤnſtlich und unna-
tuͤrlich ſie an ſich iſt, ſie iſt natuͤrlicher, ſanfter, und in einiger Entfernung wahrer, als die dop-
pelte Schrafur.

Dritte
*) Ein Schweizerwort: die Geſchicklichkeit, mancher-
ley Dinge gut einzurichten und anzuordnen, und ſich in
[Spaltenumbruch] alles leicht zu finden. Wer dieſe Geſchicklichkeit hat,
heißt ein anſtelliger Menſch.
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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 2. Leipzig u. a., 1776, S. 283. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente02_1776/505>, abgerufen am 29.03.2024.