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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 2. Leipzig u. a., 1776.

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VII. Fragment.

Zweytens, "weil die Verstellung selbst ihre sichere -- und, wo nicht mit Zeichen und
"Worten bestimmbare, doch empfindbare Merkmale hat."

Jch sage fürs erste: "Es giebt unzählige Dinge in dem Aeussern des Menschen, wo-
"bey nicht die mindeste Verstellung Statt hat, und gerade solche Dinge, welche sehr zuverläs-
"sige Merkmale seines innern Charakters sind."

Welcher Mensch wird es durch alle Künste der feinsten Verstellung dahin bringen, daß
z. E. sein Knochensystem sich nach Belieben verändere? welcher machen können, daß er scheint,
eine stark gewölbte Stirn zu haben, wenn sie platt ist? --

Eine eckigte, gebrochne, wenn sie gewölbt und rund ist?

Welcher wird die Farbe und Lage seiner Augenbraunen verändern können? scheinen kön-
nen, starke, dachförmige Augenbraunen zu haben, wenn er dünne, oder überall keine hat?

Wer wird sich eine feine Nase anbilden können, wenn er eine aufgedrückte, stumpfe hat?

Wer wird sich große Lippen machen können, wenn er kleine, und kleine, wenn er große hat?

Wer sich ein spitziges Kinn aus einem runden, ein rundes aus einem spitzigen drehen können?

Wer wird die Farbe seiner Augen verändern, oder, wie es ihm vortheilhaft scheint, hel-
ler oder dunkler machen können? welche Verstellungskunst kann ein blaues Auge in ein braunes,
ein grünliches in ein schwarzes, ein plattes in ein gewölbtes verwandeln?

Eben dieses gilt von den Ohren, von ihrer Gestalt, ihrer Lage, ihrer Entfernung von
der Nase, ihrer Höhe oder Tiefe; -- gilt von dem ganzen Schädel, einem großen Theile des
Umrisses -- von der Farbe, der Haut, den Muskeln, dem Pulsschlag; -- alles Dinge, die,
wie wir an seinem Orte zeigen werden, oder doch leicht zeigen könnten, und wie jeder auch nur mit-
telmäßige Beobachter täglich wahrnimmt, entscheidende Merkmale von dem Temperamente, und
dem Charakter eines Menschen sind.

Wo kann hiebey und noch in sehr vielen andern Aeusserlichkeiten des menschlichen Kör-
pers die mindeste Verstellung statt haben?

Ein cholerischer Mensch gebe sich alle ersinnliche Mühe, phlegmatisch, und der melan-
cholische, sanguinisch zu scheinen -- Er wird weder sein Geblüt, noch seine Farbe, noch seine
Nerven und Muskeln, noch die Zeichen und Merkmale davon auf der Stelle verändern können.

Ein
VII. Fragment.

Zweytens, „weil die Verſtellung ſelbſt ihre ſichere — und, wo nicht mit Zeichen und
„Worten beſtimmbare, doch empfindbare Merkmale hat.“

Jch ſage fuͤrs erſte: „Es giebt unzaͤhlige Dinge in dem Aeuſſern des Menſchen, wo-
„bey nicht die mindeſte Verſtellung Statt hat, und gerade ſolche Dinge, welche ſehr zuverlaͤſ-
„ſige Merkmale ſeines innern Charakters ſind.“

Welcher Menſch wird es durch alle Kuͤnſte der feinſten Verſtellung dahin bringen, daß
z. E. ſein Knochenſyſtem ſich nach Belieben veraͤndere? welcher machen koͤnnen, daß er ſcheint,
eine ſtark gewoͤlbte Stirn zu haben, wenn ſie platt iſt? —

Eine eckigte, gebrochne, wenn ſie gewoͤlbt und rund iſt?

Welcher wird die Farbe und Lage ſeiner Augenbraunen veraͤndern koͤnnen? ſcheinen koͤn-
nen, ſtarke, dachfoͤrmige Augenbraunen zu haben, wenn er duͤnne, oder uͤberall keine hat?

Wer wird ſich eine feine Naſe anbilden koͤnnen, wenn er eine aufgedruͤckte, ſtumpfe hat?

Wer wird ſich große Lippen machen koͤnnen, wenn er kleine, und kleine, wenn er große hat?

Wer ſich ein ſpitziges Kinn aus einem runden, ein rundes aus einem ſpitzigen drehen koͤnnen?

Wer wird die Farbe ſeiner Augen veraͤndern, oder, wie es ihm vortheilhaft ſcheint, hel-
ler oder dunkler machen koͤnnen? welche Verſtellungskunſt kann ein blaues Auge in ein braunes,
ein gruͤnliches in ein ſchwarzes, ein plattes in ein gewoͤlbtes verwandeln?

Eben dieſes gilt von den Ohren, von ihrer Geſtalt, ihrer Lage, ihrer Entfernung von
der Naſe, ihrer Hoͤhe oder Tiefe; — gilt von dem ganzen Schaͤdel, einem großen Theile des
Umriſſes — von der Farbe, der Haut, den Muskeln, dem Pulsſchlag; — alles Dinge, die,
wie wir an ſeinem Orte zeigen werden, oder doch leicht zeigen koͤnnten, und wie jeder auch nur mit-
telmaͤßige Beobachter taͤglich wahrnimmt, entſcheidende Merkmale von dem Temperamente, und
dem Charakter eines Menſchen ſind.

Wo kann hiebey und noch in ſehr vielen andern Aeuſſerlichkeiten des menſchlichen Koͤr-
pers die mindeſte Verſtellung ſtatt haben?

Ein choleriſcher Menſch gebe ſich alle erſinnliche Muͤhe, phlegmatiſch, und der melan-
choliſche, ſanguiniſch zu ſcheinen — Er wird weder ſein Gebluͤt, noch ſeine Farbe, noch ſeine
Nerven und Muskeln, noch die Zeichen und Merkmale davon auf der Stelle veraͤndern koͤnnen.

Ein
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[56/0078] VII. Fragment. Zweytens, „weil die Verſtellung ſelbſt ihre ſichere — und, wo nicht mit Zeichen und „Worten beſtimmbare, doch empfindbare Merkmale hat.“ Jch ſage fuͤrs erſte: „Es giebt unzaͤhlige Dinge in dem Aeuſſern des Menſchen, wo- „bey nicht die mindeſte Verſtellung Statt hat, und gerade ſolche Dinge, welche ſehr zuverlaͤſ- „ſige Merkmale ſeines innern Charakters ſind.“ Welcher Menſch wird es durch alle Kuͤnſte der feinſten Verſtellung dahin bringen, daß z. E. ſein Knochenſyſtem ſich nach Belieben veraͤndere? welcher machen koͤnnen, daß er ſcheint, eine ſtark gewoͤlbte Stirn zu haben, wenn ſie platt iſt? — Eine eckigte, gebrochne, wenn ſie gewoͤlbt und rund iſt? Welcher wird die Farbe und Lage ſeiner Augenbraunen veraͤndern koͤnnen? ſcheinen koͤn- nen, ſtarke, dachfoͤrmige Augenbraunen zu haben, wenn er duͤnne, oder uͤberall keine hat? Wer wird ſich eine feine Naſe anbilden koͤnnen, wenn er eine aufgedruͤckte, ſtumpfe hat? Wer wird ſich große Lippen machen koͤnnen, wenn er kleine, und kleine, wenn er große hat? Wer ſich ein ſpitziges Kinn aus einem runden, ein rundes aus einem ſpitzigen drehen koͤnnen? Wer wird die Farbe ſeiner Augen veraͤndern, oder, wie es ihm vortheilhaft ſcheint, hel- ler oder dunkler machen koͤnnen? welche Verſtellungskunſt kann ein blaues Auge in ein braunes, ein gruͤnliches in ein ſchwarzes, ein plattes in ein gewoͤlbtes verwandeln? Eben dieſes gilt von den Ohren, von ihrer Geſtalt, ihrer Lage, ihrer Entfernung von der Naſe, ihrer Hoͤhe oder Tiefe; — gilt von dem ganzen Schaͤdel, einem großen Theile des Umriſſes — von der Farbe, der Haut, den Muskeln, dem Pulsſchlag; — alles Dinge, die, wie wir an ſeinem Orte zeigen werden, oder doch leicht zeigen koͤnnten, und wie jeder auch nur mit- telmaͤßige Beobachter taͤglich wahrnimmt, entſcheidende Merkmale von dem Temperamente, und dem Charakter eines Menſchen ſind. Wo kann hiebey und noch in ſehr vielen andern Aeuſſerlichkeiten des menſchlichen Koͤr- pers die mindeſte Verſtellung ſtatt haben? Ein choleriſcher Menſch gebe ſich alle erſinnliche Muͤhe, phlegmatiſch, und der melan- choliſche, ſanguiniſch zu ſcheinen — Er wird weder ſein Gebluͤt, noch ſeine Farbe, noch ſeine Nerven und Muskeln, noch die Zeichen und Merkmale davon auf der Stelle veraͤndern koͤnnen. Ein

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 2. Leipzig u. a., 1776, S. 56. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente02_1776/78>, abgerufen am 29.03.2024.