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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 2. Leipzig u. a., 1776.

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Zugabe.
Ueber zwey Mundstücke.

M M.

Jn der Mittellinie des Mundes ruht und würkt die ganze Seele des Menschen.

Es ist keine Kraft, keine verborgne oder würksame Leidenschaft, keine Anlage, und beson-
ders kein gegenwärtiger Zustand des Menschen, der nicht in der Linie, die aus dem Verhältnisse
und der Lage der Ober- und Unterlippe entsteht, sichtbar werde, oder sichtbar werden könne. Der
geringstscheinende Unterschied in diesem Zuge kann oft den größten Unterschied des Charakters und
der Gemüthslage anzeigen ..... Doch hievon itzt nicht ausführlich; beynah' alle Blätter dieses
Werkes geben Gelegenheit davon zu reden. --

Nur so viel bey Gelegenheit des Sokratischen so fatalen Mundes im vorigen Stücke. Und
bey Gelegenheit dessen -- von ein Paar andern Mundstücken von sehr sprechender Bedeutung.

Nichts weniger als fein gezeichnet oder radiert sind diese beyden Mundstücke -- sie haben
aber dennoch bey der auffallenden Rauhigkeit der Nadel Charakter genug. --

Mit welchem würdet Jhr lieber sprechen?

Ganz unfehlbar mit dem obern? der gewiß wird Euch mehr Liebe einflößen, mehr anzie-
hen, als der untere ...

Welcher gerader, ruhiger, heiterer Sinn in dem obern! welches weisen, klugen, stillen
Beobachters ist er! welches theilnehmenden, standhaften Freundes!

Jn der Natur -- ohne diese Härte, die ihm die rohere Nadel und die schwarze Farbe
giebt -- in der Natur, wo jede Linie feiner, gebrochener, nüancirter ist, als die Kunst sie gemei-
niglich erreicht -- in der Natur -- welch ein Mund würd' es seyn voll Weisheit und unge-
lernter inniger Güte!

Die horizontale Lage des Ganzen; die Größe, Höhe, der Schluß, das Verhältniß
der Lippen gegen einander, -- die Zeichnung am meisten -- wie zusammenstimmend --

Denkt
Zugabe.
Ueber zwey Mundſtuͤcke.

M M.

Jn der Mittellinie des Mundes ruht und wuͤrkt die ganze Seele des Menſchen.

Es iſt keine Kraft, keine verborgne oder wuͤrkſame Leidenſchaft, keine Anlage, und beſon-
ders kein gegenwaͤrtiger Zuſtand des Menſchen, der nicht in der Linie, die aus dem Verhaͤltniſſe
und der Lage der Ober- und Unterlippe entſteht, ſichtbar werde, oder ſichtbar werden koͤnne. Der
geringſtſcheinende Unterſchied in dieſem Zuge kann oft den groͤßten Unterſchied des Charakters und
der Gemuͤthslage anzeigen ..... Doch hievon itzt nicht ausfuͤhrlich; beynah’ alle Blaͤtter dieſes
Werkes geben Gelegenheit davon zu reden. —

Nur ſo viel bey Gelegenheit des Sokratiſchen ſo fatalen Mundes im vorigen Stuͤcke. Und
bey Gelegenheit deſſen — von ein Paar andern Mundſtuͤcken von ſehr ſprechender Bedeutung.

Nichts weniger als fein gezeichnet oder radiert ſind dieſe beyden Mundſtuͤcke — ſie haben
aber dennoch bey der auffallenden Rauhigkeit der Nadel Charakter genug. —

Mit welchem wuͤrdet Jhr lieber ſprechen?

Ganz unfehlbar mit dem obern? der gewiß wird Euch mehr Liebe einfloͤßen, mehr anzie-
hen, als der untere ...

Welcher gerader, ruhiger, heiterer Sinn in dem obern! welches weiſen, klugen, ſtillen
Beobachters iſt er! welches theilnehmenden, ſtandhaften Freundes!

Jn der Natur — ohne dieſe Haͤrte, die ihm die rohere Nadel und die ſchwarze Farbe
giebt — in der Natur, wo jede Linie feiner, gebrochener, nuͤancirter iſt, als die Kunſt ſie gemei-
niglich erreicht — in der Natur — welch ein Mund wuͤrd’ es ſeyn voll Weisheit und unge-
lernter inniger Guͤte!

Die horizontale Lage des Ganzen; die Groͤße, Hoͤhe, der Schluß, das Verhaͤltniß
der Lippen gegen einander, — die Zeichnung am meiſten — wie zuſammenſtimmend —

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[71/0097] Zugabe. Ueber zwey Mundſtuͤcke. M M. Jn der Mittellinie des Mundes ruht und wuͤrkt die ganze Seele des Menſchen. Es iſt keine Kraft, keine verborgne oder wuͤrkſame Leidenſchaft, keine Anlage, und beſon- ders kein gegenwaͤrtiger Zuſtand des Menſchen, der nicht in der Linie, die aus dem Verhaͤltniſſe und der Lage der Ober- und Unterlippe entſteht, ſichtbar werde, oder ſichtbar werden koͤnne. Der geringſtſcheinende Unterſchied in dieſem Zuge kann oft den groͤßten Unterſchied des Charakters und der Gemuͤthslage anzeigen ..... Doch hievon itzt nicht ausfuͤhrlich; beynah’ alle Blaͤtter dieſes Werkes geben Gelegenheit davon zu reden. — Nur ſo viel bey Gelegenheit des Sokratiſchen ſo fatalen Mundes im vorigen Stuͤcke. Und bey Gelegenheit deſſen — von ein Paar andern Mundſtuͤcken von ſehr ſprechender Bedeutung. Nichts weniger als fein gezeichnet oder radiert ſind dieſe beyden Mundſtuͤcke — ſie haben aber dennoch bey der auffallenden Rauhigkeit der Nadel Charakter genug. — Mit welchem wuͤrdet Jhr lieber ſprechen? Ganz unfehlbar mit dem obern? der gewiß wird Euch mehr Liebe einfloͤßen, mehr anzie- hen, als der untere ... Welcher gerader, ruhiger, heiterer Sinn in dem obern! welches weiſen, klugen, ſtillen Beobachters iſt er! welches theilnehmenden, ſtandhaften Freundes! Jn der Natur — ohne dieſe Haͤrte, die ihm die rohere Nadel und die ſchwarze Farbe giebt — in der Natur, wo jede Linie feiner, gebrochener, nuͤancirter iſt, als die Kunſt ſie gemei- niglich erreicht — in der Natur — welch ein Mund wuͤrd’ es ſeyn voll Weisheit und unge- lernter inniger Guͤte! Die horizontale Lage des Ganzen; die Groͤße, Hoͤhe, der Schluß, das Verhaͤltniß der Lippen gegen einander, — die Zeichnung am meiſten — wie zuſammenſtimmend — Denkt

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 2. Leipzig u. a., 1776, S. 71. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente02_1776/97>, abgerufen am 28.03.2024.