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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777.

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I. Fragment.
Kleid seyn mag; im Kleide ist das Gesicht gewiß selten so leserlich, als im Gesichte das
Kleid.

4.

Seite 18.

"Wie leise und schwach ist die Stimme aller Männer von entscheidendem Ansehn, für die
"Wahrheit und Würde der Physiognomik!" --

Noch itzt erfahr' ich's beynahe täglich. Verständige, Einsichtsvolle Leser -- die so gar
Bewunderer seyn wollen, glauben viel zuzugeben, wenn sie allgemeinen Ausdruck der mensch-
lichen Gesichtsbildung zugeben. Alle in diesem Werke vorgelegte hundertfache Beweise von der
Charakteristik einzelner Theile und Züge -- umsonst scheint alles; umsonst; auch wenn man ih-
nen in freundschaftlich vertraulicher Unterredung -- Besonderheiten vorlegt, sie vergleichen und ur-
theilen läßt, sie laut gestehen müssen -- "Ja -- diese einzeln betrachtete Nase ist verständiger, als
"jene einzeln betrachtet -- dieser kleine Zug verändert den ganzen Charakter, macht einen wesent-
"lich verschiednen Eindruck" -- -- Das alles hilft nichts; man geht wieder fort, und behauptet
in derselben Stunde noch -- "Ja! wohl überhaupt ist die Physiognomie wahr -- wohl alles
"zusammengenommen
-- aber einzelne Züge für sich allein sind von keiner Bedeutung." --
Nicht, daß ich jemanden beleidigen wolle; aber fragen muß ich doch -- "Jst das gerader Menschen-
"sinn? philosophischer Geist? Mannskraft?" --

5.

Seite 23. unter die biblischen Zeugnisse für die Physiognomik, gehört auch noch die Stelle
Jesaiä III. 9. v. "Die Gestalt ihres Angesichtes verräth sie; und sie kündigen ihre Sün-
"den selbst aus, wie die von Sodoma, und verbergen sie nicht.
" --

6.

Das fünfte Fragment des ersten Bandes über die menschliche Natur scheint den mei-
sten Lesern von bedenklicher und furchtsamer Gemüthsart -- die besonders ein sehr feines
Sensorium für jede theologische oder philosophische Heterodoxie haben, am anstößigsten gewesen zu
seyn. Jch habe mir's also zur Pflicht gemacht -- Zeile für Zeile, Wort für Wort mehrmals mit
dem schärfsten Nachdenken, wie's mir nur immer möglich war, durchzulesen -- und ich habe nichts

gefunden,

I. Fragment.
Kleid ſeyn mag; im Kleide iſt das Geſicht gewiß ſelten ſo leſerlich, als im Geſichte das
Kleid.

4.

Seite 18.

„Wie leiſe und ſchwach iſt die Stimme aller Maͤnner von entſcheidendem Anſehn, fuͤr die
„Wahrheit und Wuͤrde der Phyſiognomik!“ —

Noch itzt erfahr’ ich’s beynahe taͤglich. Verſtaͤndige, Einſichtsvolle Leſer — die ſo gar
Bewunderer ſeyn wollen, glauben viel zuzugeben, wenn ſie allgemeinen Ausdruck der menſch-
lichen Geſichtsbildung zugeben. Alle in dieſem Werke vorgelegte hundertfache Beweiſe von der
Charakteriſtik einzelner Theile und Zuͤge — umſonſt ſcheint alles; umſonſt; auch wenn man ih-
nen in freundſchaftlich vertraulicher Unterredung — Beſonderheiten vorlegt, ſie vergleichen und ur-
theilen laͤßt, ſie laut geſtehen muͤſſen — „Ja — dieſe einzeln betrachtete Naſe iſt verſtaͤndiger, als
„jene einzeln betrachtet — dieſer kleine Zug veraͤndert den ganzen Charakter, macht einen weſent-
„lich verſchiednen Eindruck“ — — Das alles hilft nichts; man geht wieder fort, und behauptet
in derſelben Stunde noch — „Ja! wohl uͤberhaupt iſt die Phyſiognomie wahr — wohl alles
„zuſammengenommen
— aber einzelne Zuͤge fuͤr ſich allein ſind von keiner Bedeutung.“ —
Nicht, daß ich jemanden beleidigen wolle; aber fragen muß ich doch — „Jſt das gerader Menſchen-
„ſinn? philoſophiſcher Geiſt? Mannskraft?“ —

5.

Seite 23. unter die bibliſchen Zeugniſſe fuͤr die Phyſiognomik, gehoͤrt auch noch die Stelle
Jeſaiaͤ III. 9. v. „Die Geſtalt ihres Angeſichtes verraͤth ſie; und ſie kuͤndigen ihre Suͤn-
„den ſelbſt aus, wie die von Sodoma, und verbergen ſie nicht.
“ —

6.

Das fuͤnfte Fragment des erſten Bandes uͤber die menſchliche Natur ſcheint den mei-
ſten Leſern von bedenklicher und furchtſamer Gemuͤthsart — die beſonders ein ſehr feines
Senſorium fuͤr jede theologiſche oder philoſophiſche Heterodoxie haben, am anſtoͤßigſten geweſen zu
ſeyn. Jch habe mir’s alſo zur Pflicht gemacht — Zeile fuͤr Zeile, Wort fuͤr Wort mehrmals mit
dem ſchaͤrfſten Nachdenken, wie’s mir nur immer moͤglich war, durchzuleſen — und ich habe nichts

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[6/0022] I. Fragment. Kleid ſeyn mag; im Kleide iſt das Geſicht gewiß ſelten ſo leſerlich, als im Geſichte das Kleid. 4. Seite 18. „Wie leiſe und ſchwach iſt die Stimme aller Maͤnner von entſcheidendem Anſehn, fuͤr die „Wahrheit und Wuͤrde der Phyſiognomik!“ — Noch itzt erfahr’ ich’s beynahe taͤglich. Verſtaͤndige, Einſichtsvolle Leſer — die ſo gar Bewunderer ſeyn wollen, glauben viel zuzugeben, wenn ſie allgemeinen Ausdruck der menſch- lichen Geſichtsbildung zugeben. Alle in dieſem Werke vorgelegte hundertfache Beweiſe von der Charakteriſtik einzelner Theile und Zuͤge — umſonſt ſcheint alles; umſonſt; auch wenn man ih- nen in freundſchaftlich vertraulicher Unterredung — Beſonderheiten vorlegt, ſie vergleichen und ur- theilen laͤßt, ſie laut geſtehen muͤſſen — „Ja — dieſe einzeln betrachtete Naſe iſt verſtaͤndiger, als „jene einzeln betrachtet — dieſer kleine Zug veraͤndert den ganzen Charakter, macht einen weſent- „lich verſchiednen Eindruck“ — — Das alles hilft nichts; man geht wieder fort, und behauptet in derſelben Stunde noch — „Ja! wohl uͤberhaupt iſt die Phyſiognomie wahr — wohl alles „zuſammengenommen — aber einzelne Zuͤge fuͤr ſich allein ſind von keiner Bedeutung.“ — Nicht, daß ich jemanden beleidigen wolle; aber fragen muß ich doch — „Jſt das gerader Menſchen- „ſinn? philoſophiſcher Geiſt? Mannskraft?“ — 5. Seite 23. unter die bibliſchen Zeugniſſe fuͤr die Phyſiognomik, gehoͤrt auch noch die Stelle Jeſaiaͤ III. 9. v. „Die Geſtalt ihres Angeſichtes verraͤth ſie; und ſie kuͤndigen ihre Suͤn- „den ſelbſt aus, wie die von Sodoma, und verbergen ſie nicht.“ — 6. Das fuͤnfte Fragment des erſten Bandes uͤber die menſchliche Natur ſcheint den mei- ſten Leſern von bedenklicher und furchtſamer Gemuͤthsart — die beſonders ein ſehr feines Senſorium fuͤr jede theologiſche oder philoſophiſche Heterodoxie haben, am anſtoͤßigſten geweſen zu ſeyn. Jch habe mir’s alſo zur Pflicht gemacht — Zeile fuͤr Zeile, Wort fuͤr Wort mehrmals mit dem ſchaͤrfſten Nachdenken, wie’s mir nur immer moͤglich war, durchzuleſen — und ich habe nichts gefunden,

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777, S. 6. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente03_1777/22>, abgerufen am 29.03.2024.