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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777.

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VI. Abschnitt. VII. Fragment.
Siebentes Fragment.
Zwey Knaben. B. P.
1. B.
Des III. Ban-
des XXXVI.
Tafel.

Bild eines eilf oder zwölfjährigen schwäbischen Knaben von ausgezeichneter Phy-
siognomie. So viel gesetzt Männliches, Bedächtliches, Altkluges hat wenigstens dieß
Bild. So viel stille Standhaftigkeit; so viel versprechende Entschlossenheit -- aber dann auch
zugleich wenig Empfindsamkeit und Biegsamkeit bey dieser Geradheit, und Perpendikularität des
ganzen äußersten Profils -- Diese Geradheit von vornen; diese große Wölbung vom Haaransatz
an über den Wirbel -- welch ein scheinbarer Kontrast! Jch erwarte von dem Knaben, wenn er
Mann ist, viel Laune, List, Anstelligkeit, Eigensinn und -- Widersprechendes im Charakter.

2. P.

Ein sehr kenntliches, obgleich in den Umrissen entkräftetes, abgeschliffenes Bild eines der
originellsten, fähigsten Knaben -- Ein Sohn; aber ein schlauer, feiner, schwer zu zäumender
Sohn -- der Natur. Fähigkeit alles leicht zu lernen -- und schnelle Sattheit an allem Halb-
erlernten; tiefer Blick; schnelltreffendes Urtheil; muthiger Angriff -- bald vollendete That --
Gefühl der Natur und seiner selbst -- das alles sah' ich, erfuhr ich am Knaben; sah's in der
Natur vornehmlich im tiefen, bestimmten, treffenden Auge; auch in der Copie ist noch hinschauen-
de Helle; im Munde froher Knabenmuth. Die Stirn in der Copie hat wenig -- und dennoch
mit diesem wenigen sehr viel verloren.

Jst der obere schon vorbedächtiger Mann; so ist der untere noch ganz Knabe, der aber ge-
wiß Mann werden -- wird? -- Kann gewiß!

Die feste Lage oder vielmehr Gepreßtheit der Lippen im obern kontrastirt sehr mit der,
freylich auf dem Kupfer gehemmten, geschwächten Freyheit im untern.

Das
VI. Abſchnitt. VII. Fragment.
Siebentes Fragment.
Zwey Knaben. B. P.
1. B.
Des III. Ban-
des XXXVI.
Tafel.

Bild eines eilf oder zwoͤlfjaͤhrigen ſchwaͤbiſchen Knaben von ausgezeichneter Phy-
ſiognomie. So viel geſetzt Maͤnnliches, Bedaͤchtliches, Altkluges hat wenigſtens dieß
Bild. So viel ſtille Standhaftigkeit; ſo viel verſprechende Entſchloſſenheit — aber dann auch
zugleich wenig Empfindſamkeit und Biegſamkeit bey dieſer Geradheit, und Perpendikularitaͤt des
ganzen aͤußerſten Profils — Dieſe Geradheit von vornen; dieſe große Woͤlbung vom Haaranſatz
an uͤber den Wirbel — welch ein ſcheinbarer Kontraſt! Jch erwarte von dem Knaben, wenn er
Mann iſt, viel Laune, Liſt, Anſtelligkeit, Eigenſinn und — Widerſprechendes im Charakter.

2. P.

Ein ſehr kenntliches, obgleich in den Umriſſen entkraͤftetes, abgeſchliffenes Bild eines der
originellſten, faͤhigſten Knaben — Ein Sohn; aber ein ſchlauer, feiner, ſchwer zu zaͤumender
Sohn — der Natur. Faͤhigkeit alles leicht zu lernen — und ſchnelle Sattheit an allem Halb-
erlernten; tiefer Blick; ſchnelltreffendes Urtheil; muthiger Angriff — bald vollendete That —
Gefuͤhl der Natur und ſeiner ſelbſt — das alles ſah’ ich, erfuhr ich am Knaben; ſah’s in der
Natur vornehmlich im tiefen, beſtimmten, treffenden Auge; auch in der Copie iſt noch hinſchauen-
de Helle; im Munde froher Knabenmuth. Die Stirn in der Copie hat wenig — und dennoch
mit dieſem wenigen ſehr viel verloren.

Jſt der obere ſchon vorbedaͤchtiger Mann; ſo iſt der untere noch ganz Knabe, der aber ge-
wiß Mann werden — wird? — Kann gewiß!

Die feſte Lage oder vielmehr Gepreßtheit der Lippen im obern kontraſtirt ſehr mit der,
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[148/0234] VI. Abſchnitt. VII. Fragment. Siebentes Fragment. Zwey Knaben. B. P. 1. B. Bild eines eilf oder zwoͤlfjaͤhrigen ſchwaͤbiſchen Knaben von ausgezeichneter Phy- ſiognomie. So viel geſetzt Maͤnnliches, Bedaͤchtliches, Altkluges hat wenigſtens dieß Bild. So viel ſtille Standhaftigkeit; ſo viel verſprechende Entſchloſſenheit — aber dann auch zugleich wenig Empfindſamkeit und Biegſamkeit bey dieſer Geradheit, und Perpendikularitaͤt des ganzen aͤußerſten Profils — Dieſe Geradheit von vornen; dieſe große Woͤlbung vom Haaranſatz an uͤber den Wirbel — welch ein ſcheinbarer Kontraſt! Jch erwarte von dem Knaben, wenn er Mann iſt, viel Laune, Liſt, Anſtelligkeit, Eigenſinn und — Widerſprechendes im Charakter. 2. P. Ein ſehr kenntliches, obgleich in den Umriſſen entkraͤftetes, abgeſchliffenes Bild eines der originellſten, faͤhigſten Knaben — Ein Sohn; aber ein ſchlauer, feiner, ſchwer zu zaͤumender Sohn — der Natur. Faͤhigkeit alles leicht zu lernen — und ſchnelle Sattheit an allem Halb- erlernten; tiefer Blick; ſchnelltreffendes Urtheil; muthiger Angriff — bald vollendete That — Gefuͤhl der Natur und ſeiner ſelbſt — das alles ſah’ ich, erfuhr ich am Knaben; ſah’s in der Natur vornehmlich im tiefen, beſtimmten, treffenden Auge; auch in der Copie iſt noch hinſchauen- de Helle; im Munde froher Knabenmuth. Die Stirn in der Copie hat wenig — und dennoch mit dieſem wenigen ſehr viel verloren. Jſt der obere ſchon vorbedaͤchtiger Mann; ſo iſt der untere noch ganz Knabe, der aber ge- wiß Mann werden — wird? — Kann gewiß! Die feſte Lage oder vielmehr Gepreßtheit der Lippen im obern kontraſtirt ſehr mit der, freylich auf dem Kupfer gehemmten, geſchwaͤchten Freyheit im untern. Das

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777, S. 148. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente03_1777/234>, abgerufen am 23.04.2024.