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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777.

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X. Abschnitt. I. Fragment.

Die Einen denken sich in die unsichtbare Gotteswelt hinein -- Jhre Religion ist mehr
Heitere des Verstandes. Jhr Gott ist -- mehr Abstraktion -- So Wolf und seine
Schüler.

Die andern imaginiren sich mehr in die Gottheit und ihr unsichtbares Reich hinein. Sie
denken und empfinden durch die Jmagination. So die Herrnhuter.

Noch andere wollen sich weder hineindenken, noch hineinimaginiren -- sie wollen sich
bloß hineinfühlen -- hinein -- schlummern -- So viele Mystiker.

Wer ist's, der mit allen Kräften, allen Sinnen ins unsichtbare Gottesreich strebe, und
hindurchkämpfe?

Harte -- kämpfen sich hinein.

Weiche -- singen und weinen sich hinein.

Bewegliche feste kämpfen, singen, weinen, leiden, handeln -- sich hinein.

Ein jeder Religiose tingirt sich, denkt sich, ohne daß er's weiß, seine Gottheit nach sei-
nem Charakter -- der kältere kälter; wärmer der warme -- daher sprach Petrus so ernstlich,
Johannes
so zärtlich von ihm! Einem und ebendemselben! -- Jedem religiosen Sinn ist Gott das
Höchste und Liebste -- jedem theilt er sich mit zu seiner Beseligung, aber jedem auf andere Weise.

Zum Beschlusse dieses Fragments, noch eine Stelle aus dem XIII.
Gesange der Meßiade.
Siehst du den Herrlichen? Seine sanft gemilderte Schimmer?
Uns, den zarten Blumen im himmlischen Saron gemildert?
Und für jene Zeder zwar auch gemildert, denn endlich
Schuf Er Eloa! doch ist er gewiß ein Anderer diesem
Großen Erwählten! ... Ein anderer, rief Eloa, indem er
Freudig kam, und neben sie hinsank: Jedem ein Andrer!
So vollkommen ist Er. Euch, Hiob, Daniel, Moses,
Abraham! dir, du erster der Todesengel, dir, Salem,
Dir, Maria, und mir, und euch, Benoni, Jedidoth,
Jedem
X. Abſchnitt. I. Fragment.

Die Einen denken ſich in die unſichtbare Gotteswelt hinein — Jhre Religion iſt mehr
Heitere des Verſtandes. Jhr Gott iſt — mehr Abſtraktion — So Wolf und ſeine
Schuͤler.

Die andern imaginiren ſich mehr in die Gottheit und ihr unſichtbares Reich hinein. Sie
denken und empfinden durch die Jmagination. So die Herrnhuter.

Noch andere wollen ſich weder hineindenken, noch hineinimaginiren — ſie wollen ſich
bloß hineinfuͤhlen — hinein — ſchlummern — So viele Myſtiker.

Wer iſt’s, der mit allen Kraͤften, allen Sinnen ins unſichtbare Gottesreich ſtrebe, und
hindurchkaͤmpfe?

Harte — kaͤmpfen ſich hinein.

Weiche — ſingen und weinen ſich hinein.

Bewegliche feſte kaͤmpfen, ſingen, weinen, leiden, handeln — ſich hinein.

Ein jeder Religioſe tingirt ſich, denkt ſich, ohne daß er’s weiß, ſeine Gottheit nach ſei-
nem Charakter — der kaͤltere kaͤlter; waͤrmer der warme — daher ſprach Petrus ſo ernſtlich,
Johannes
ſo zaͤrtlich von ihm! Einem und ebendemſelben! — Jedem religioſen Sinn iſt Gott das
Hoͤchſte und Liebſte — jedem theilt er ſich mit zu ſeiner Beſeligung, aber jedem auf andere Weiſe.

Zum Beſchluſſe dieſes Fragments, noch eine Stelle aus dem XIII.
Geſange der Meßiade.
Siehſt du den Herrlichen? Seine ſanft gemilderte Schimmer?
Uns, den zarten Blumen im himmliſchen Saron gemildert?
Und fuͤr jene Zeder zwar auch gemildert, denn endlich
Schuf Er Eloa! doch iſt er gewiß ein Anderer dieſem
Großen Erwaͤhlten! ... Ein anderer, rief Eloa, indem er
Freudig kam, und neben ſie hinſank: Jedem ein Andrer!
So vollkommen iſt Er. Euch, Hiob, Daniel, Moſes,
Abraham! dir, du erſter der Todesengel, dir, Salem,
Dir, Maria, und mir, und euch, Benoni, Jedidoth,
Jedem
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[246/0394] X. Abſchnitt. I. Fragment. Die Einen denken ſich in die unſichtbare Gotteswelt hinein — Jhre Religion iſt mehr Heitere des Verſtandes. Jhr Gott iſt — mehr Abſtraktion — So Wolf und ſeine Schuͤler. Die andern imaginiren ſich mehr in die Gottheit und ihr unſichtbares Reich hinein. Sie denken und empfinden durch die Jmagination. So die Herrnhuter. Noch andere wollen ſich weder hineindenken, noch hineinimaginiren — ſie wollen ſich bloß hineinfuͤhlen — hinein — ſchlummern — So viele Myſtiker. Wer iſt’s, der mit allen Kraͤften, allen Sinnen ins unſichtbare Gottesreich ſtrebe, und hindurchkaͤmpfe? Harte — kaͤmpfen ſich hinein. Weiche — ſingen und weinen ſich hinein. Bewegliche feſte kaͤmpfen, ſingen, weinen, leiden, handeln — ſich hinein. Ein jeder Religioſe tingirt ſich, denkt ſich, ohne daß er’s weiß, ſeine Gottheit nach ſei- nem Charakter — der kaͤltere kaͤlter; waͤrmer der warme — daher ſprach Petrus ſo ernſtlich, Johannes ſo zaͤrtlich von ihm! Einem und ebendemſelben! — Jedem religioſen Sinn iſt Gott das Hoͤchſte und Liebſte — jedem theilt er ſich mit zu ſeiner Beſeligung, aber jedem auf andere Weiſe. Zum Beſchluſſe dieſes Fragments, noch eine Stelle aus dem XIII. Geſange der Meßiade. Siehſt du den Herrlichen? Seine ſanft gemilderte Schimmer? Uns, den zarten Blumen im himmliſchen Saron gemildert? Und fuͤr jene Zeder zwar auch gemildert, denn endlich Schuf Er Eloa! doch iſt er gewiß ein Anderer dieſem Großen Erwaͤhlten! ... Ein anderer, rief Eloa, indem er Freudig kam, und neben ſie hinſank: Jedem ein Andrer! So vollkommen iſt Er. Euch, Hiob, Daniel, Moſes, Abraham! dir, du erſter der Todesengel, dir, Salem, Dir, Maria, und mir, und euch, Benoni, Jedidoth, Jedem

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777, S. 246. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente03_1777/394>, abgerufen am 25.04.2024.