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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777.

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X. Abschnitt. II. Fragment.
Zweytes Fragment.
Johann Jakob Heß.

Einer der gelesensten und lesenswürdigsten religiosen Schriftsteller unsers Jahrhunderts -- in
der Hauptform des Gesichtes mehr, als in einzelnen Zügen ähnlich. Auch ist die Bearbeitung oder
der Styl hart, widrig, geschmacklos. Doch haben wir noch so viel Wahrheit in diesem Bilde vor
uns, daß wir von dem allbekannten Charakter dieses vortrefflichen Mannes -- wohl die Haupt-
züge neben dasselbe -- aufstellen dürfen.

Sehr hell und sehr tief sehender, langsam prüfender, auf allen Seiten wendender Ver-
stand -- eine unbestechlich gesunde Urtheilskraft; Ruhe und Bedächtlichkeit in allen seinen Unter-
nehmungen, Reden, Handlungen -- Klugheit, Festhaltung des Hauptzweckes, stille Sanftheit
und Bestimmtheit bey allen seinen Meditationen und Ausarbeitungen -- Selten hervorbrechender,
aber dann äußerst treffender Witz; nicht eine sehr reiche, aber helle und wahrzeichnende Einbildungs-
kraft; ein gesundes, getreues Gedächtniß -- Seht da den wahren, kaltgezeichneten Charakter sei-
nes Geistes -- den jedes Auge, das den Mann kennt -- sey's des Freundes oder Feindes -- gewiß
so sehen muß -- Des Feindes? Jch glaube nicht, daß der Mann einen einzigen Feind haben kön-
ne! -- Seiner äußersten, oft vielleicht bis zur Schüchternheit gehenden, Bescheidenheit, seiner Ru-
he, Gutherzigkeit, Geduld, Billigkeit und Anmaßungslosigkeit wegen -- Alle diese Züge sind in
allen seinen Reden, Thaten, Schriften -- auffallend. Nie scheint er sich zu verläugnen, nie zu wi-
dersprechen. Jmmer in seiner einfachen Stille sanft und fest fortgehend -- nur in seiner Bibel le-
bend und webend ... das neue Testament -- sein tägliches Brod und Trank; Hülle und Fülle.

Des III. Ban-
des LXVII.
Tafel.

Viel von diesem Charakter, aber nicht alles hat das Gesicht, das wir vor uns ha-
ben. Nicht den ganzen Geist, viel weniger die seltene Bescheidenheit, am wenigsten
das Religiose des Originals -- Diese Stirn -- wie sie da ist, ist offenbar Verstand- und Geist-
reich -- aber vorzüglicher ist die Natur, oben breiter, und im Profil etwas schärfer -- Zarte Au-
genbraunen hat das Original -- ungefehr wie sie hier ausgedrückt sind -- und dieß ist beynah
immer ein Zeichen einer feinen, empfindlichen, sanften Bildung. So wie starke, vollgedrängte,
auswüchsige Augenbraunen -- Ueberfluß von Cholera und Stolz anzeigen.

Das
X. Abſchnitt. II. Fragment.
Zweytes Fragment.
Johann Jakob Heß.

Einer der geleſenſten und leſenswuͤrdigſten religioſen Schriftſteller unſers Jahrhunderts — in
der Hauptform des Geſichtes mehr, als in einzelnen Zuͤgen aͤhnlich. Auch iſt die Bearbeitung oder
der Styl hart, widrig, geſchmacklos. Doch haben wir noch ſo viel Wahrheit in dieſem Bilde vor
uns, daß wir von dem allbekannten Charakter dieſes vortrefflichen Mannes — wohl die Haupt-
zuͤge neben daſſelbe — aufſtellen duͤrfen.

Sehr hell und ſehr tief ſehender, langſam pruͤfender, auf allen Seiten wendender Ver-
ſtand — eine unbeſtechlich geſunde Urtheilskraft; Ruhe und Bedaͤchtlichkeit in allen ſeinen Unter-
nehmungen, Reden, Handlungen — Klugheit, Feſthaltung des Hauptzweckes, ſtille Sanftheit
und Beſtimmtheit bey allen ſeinen Meditationen und Ausarbeitungen — Selten hervorbrechender,
aber dann aͤußerſt treffender Witz; nicht eine ſehr reiche, aber helle und wahrzeichnende Einbildungs-
kraft; ein geſundes, getreues Gedaͤchtniß — Seht da den wahren, kaltgezeichneten Charakter ſei-
nes Geiſtes — den jedes Auge, das den Mann kennt — ſey’s des Freundes oder Feindes — gewiß
ſo ſehen muß — Des Feindes? Jch glaube nicht, daß der Mann einen einzigen Feind haben koͤn-
ne! — Seiner aͤußerſten, oft vielleicht bis zur Schuͤchternheit gehenden, Beſcheidenheit, ſeiner Ru-
he, Gutherzigkeit, Geduld, Billigkeit und Anmaßungsloſigkeit wegen — Alle dieſe Zuͤge ſind in
allen ſeinen Reden, Thaten, Schriften — auffallend. Nie ſcheint er ſich zu verlaͤugnen, nie zu wi-
derſprechen. Jmmer in ſeiner einfachen Stille ſanft und feſt fortgehend — nur in ſeiner Bibel le-
bend und webend ... das neue Teſtament — ſein taͤgliches Brod und Trank; Huͤlle und Fuͤlle.

Des III. Ban-
des LXVII.
Tafel.

Viel von dieſem Charakter, aber nicht alles hat das Geſicht, das wir vor uns ha-
ben. Nicht den ganzen Geiſt, viel weniger die ſeltene Beſcheidenheit, am wenigſten
das Religioſe des Originals — Dieſe Stirn — wie ſie da iſt, iſt offenbar Verſtand- und Geiſt-
reich — aber vorzuͤglicher iſt die Natur, oben breiter, und im Profil etwas ſchaͤrfer — Zarte Au-
genbraunen hat das Original — ungefehr wie ſie hier ausgedruͤckt ſind — und dieß iſt beynah
immer ein Zeichen einer feinen, empfindlichen, ſanften Bildung. So wie ſtarke, vollgedraͤngte,
auswuͤchſige Augenbraunen — Ueberfluß von Cholera und Stolz anzeigen.

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[248/0396] X. Abſchnitt. II. Fragment. Zweytes Fragment. Johann Jakob Heß. Einer der geleſenſten und leſenswuͤrdigſten religioſen Schriftſteller unſers Jahrhunderts — in der Hauptform des Geſichtes mehr, als in einzelnen Zuͤgen aͤhnlich. Auch iſt die Bearbeitung oder der Styl hart, widrig, geſchmacklos. Doch haben wir noch ſo viel Wahrheit in dieſem Bilde vor uns, daß wir von dem allbekannten Charakter dieſes vortrefflichen Mannes — wohl die Haupt- zuͤge neben daſſelbe — aufſtellen duͤrfen. Sehr hell und ſehr tief ſehender, langſam pruͤfender, auf allen Seiten wendender Ver- ſtand — eine unbeſtechlich geſunde Urtheilskraft; Ruhe und Bedaͤchtlichkeit in allen ſeinen Unter- nehmungen, Reden, Handlungen — Klugheit, Feſthaltung des Hauptzweckes, ſtille Sanftheit und Beſtimmtheit bey allen ſeinen Meditationen und Ausarbeitungen — Selten hervorbrechender, aber dann aͤußerſt treffender Witz; nicht eine ſehr reiche, aber helle und wahrzeichnende Einbildungs- kraft; ein geſundes, getreues Gedaͤchtniß — Seht da den wahren, kaltgezeichneten Charakter ſei- nes Geiſtes — den jedes Auge, das den Mann kennt — ſey’s des Freundes oder Feindes — gewiß ſo ſehen muß — Des Feindes? Jch glaube nicht, daß der Mann einen einzigen Feind haben koͤn- ne! — Seiner aͤußerſten, oft vielleicht bis zur Schuͤchternheit gehenden, Beſcheidenheit, ſeiner Ru- he, Gutherzigkeit, Geduld, Billigkeit und Anmaßungsloſigkeit wegen — Alle dieſe Zuͤge ſind in allen ſeinen Reden, Thaten, Schriften — auffallend. Nie ſcheint er ſich zu verlaͤugnen, nie zu wi- derſprechen. Jmmer in ſeiner einfachen Stille ſanft und feſt fortgehend — nur in ſeiner Bibel le- bend und webend ... das neue Teſtament — ſein taͤgliches Brod und Trank; Huͤlle und Fuͤlle. Viel von dieſem Charakter, aber nicht alles hat das Geſicht, das wir vor uns ha- ben. Nicht den ganzen Geiſt, viel weniger die ſeltene Beſcheidenheit, am wenigſten das Religioſe des Originals — Dieſe Stirn — wie ſie da iſt, iſt offenbar Verſtand- und Geiſt- reich — aber vorzuͤglicher iſt die Natur, oben breiter, und im Profil etwas ſchaͤrfer — Zarte Au- genbraunen hat das Original — ungefehr wie ſie hier ausgedruͤckt ſind — und dieß iſt beynah immer ein Zeichen einer feinen, empfindlichen, ſanften Bildung. So wie ſtarke, vollgedraͤngte, auswuͤchſige Augenbraunen — Ueberfluß von Cholera und Stolz anzeigen. Das

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777, S. 248. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente03_1777/396>, abgerufen am 29.03.2024.