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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777.

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V. Fragment.
Fünftes Fragment.
Ueber griechische Gesichter.

Allgemein zugestanden ist die höhere Schönheit der altgriechischen Menschengestalt ... die itzt
verschwunden -- und dennoch nicht ganz verschwunden ist --

"Nicht zu gedenken, daß ihr Geblüt
"einige Jahrhunderte hindurch mit dem Saamen so vieler Völker, die sich unter ihnen niedergelas-
"sen haben, vermischt worden, so ist leicht einzusehen, daß ihre itzige Verfassung, Erziehung, Un-
"terricht, und Art zu denken, auch in ihre Bildung einen Einfluß haben könne. Jn allen diesen
"nachtheiligen Umständen ist noch itzo das heutige griechische Geblüt wegen dessen Schönheit be-
"rühmt, und je mehr sich die Natur dem griechischen Himmel nähert, desto schöner, erhabener,
"mächtiger ist dieselbe in Bildung der Menschenkinder. Es finden sich daher in den schönsten Län-
"dern von Jtalien wenig halb entworfene, unbestimmte, und unbedeutende Züge des Gesichtes, wie
"häufig jenseits der Alpen; sondern sie sind theils erhaben, theils geistreich, und die Form des Ge-
"sichtes ist mehrentheils groß und völlig, und die Theile derselben in Uebereinstimmung. Diese
"vorzügliche Bildung ist so augenscheinlich, daß der Kopf des geringsten Mannes unter dem Pö-
"bel in dem erhabensten historischen Gemählde könnte angebracht werden." -- (Ob hier nicht
zween Superlatife seyen? vor denen wir Physiognomisten uns weislich hüten sollten?) "Und un-
"ter den Weibern dieses Standes würde es nicht schwer seyn, auch an den geringsten Orten ein
"Bild zu einer Juno zu finden. Neapel, welches mehr, als andere Länder von Jtalien, einen sanf-
"ten Himmel, und eine gleichere und gemäßigtere Witterung genießt, weil es dem Himmelstriche,
"unter welchem das eigentliche Griechenland liegt, sehr nahe ist, hat häufig Formen und Bildun-
"gen, die zum Modell eines schönen Jdeals dienen können, und welche in Absicht der Form des
"Gesichtes, und sonderlich der starkbezeichneten und harmonischen Theile desselben, gleichsam zur
"Bildhauerey erschaffen zu seyn scheinen ... Es findet sich also die hohe Schönheit, die nicht bloß
"in einer sanften Haut, in einer blühenden Farbe, in leichtfertigen oder schmachtenden Augen,
"sondern in der Bildung und in der Form bestehet, häufig in Ländern, die einen gleich -- gütigen Him-
"mel genießen. -- Wenn also nur die Jtaliäner die Schönheit mahlen, und bilden können, wie

ein
V. Fragment.
Fuͤnftes Fragment.
Ueber griechiſche Geſichter.

Allgemein zugeſtanden iſt die hoͤhere Schoͤnheit der altgriechiſchen Menſchengeſtalt ... die itzt
verſchwunden — und dennoch nicht ganz verſchwunden iſt —

„Nicht zu gedenken, daß ihr Gebluͤt
„einige Jahrhunderte hindurch mit dem Saamen ſo vieler Voͤlker, die ſich unter ihnen niedergelaſ-
„ſen haben, vermiſcht worden, ſo iſt leicht einzuſehen, daß ihre itzige Verfaſſung, Erziehung, Un-
„terricht, und Art zu denken, auch in ihre Bildung einen Einfluß haben koͤnne. Jn allen dieſen
„nachtheiligen Umſtaͤnden iſt noch itzo das heutige griechiſche Gebluͤt wegen deſſen Schoͤnheit be-
„ruͤhmt, und je mehr ſich die Natur dem griechiſchen Himmel naͤhert, deſto ſchoͤner, erhabener,
„maͤchtiger iſt dieſelbe in Bildung der Menſchenkinder. Es finden ſich daher in den ſchoͤnſten Laͤn-
„dern von Jtalien wenig halb entworfene, unbeſtimmte, und unbedeutende Zuͤge des Geſichtes, wie
„haͤufig jenſeits der Alpen; ſondern ſie ſind theils erhaben, theils geiſtreich, und die Form des Ge-
„ſichtes iſt mehrentheils groß und voͤllig, und die Theile derſelben in Uebereinſtimmung. Dieſe
„vorzuͤgliche Bildung iſt ſo augenſcheinlich, daß der Kopf des geringſten Mannes unter dem Poͤ-
„bel in dem erhabenſten hiſtoriſchen Gemaͤhlde koͤnnte angebracht werden.“ — (Ob hier nicht
zween Superlatife ſeyen? vor denen wir Phyſiognomiſten uns weislich huͤten ſollten?) „Und un-
„ter den Weibern dieſes Standes wuͤrde es nicht ſchwer ſeyn, auch an den geringſten Orten ein
„Bild zu einer Juno zu finden. Neapel, welches mehr, als andere Laͤnder von Jtalien, einen ſanf-
„ten Himmel, und eine gleichere und gemaͤßigtere Witterung genießt, weil es dem Himmelſtriche,
„unter welchem das eigentliche Griechenland liegt, ſehr nahe iſt, hat haͤufig Formen und Bildun-
„gen, die zum Modell eines ſchoͤnen Jdeals dienen koͤnnen, und welche in Abſicht der Form des
„Geſichtes, und ſonderlich der ſtarkbezeichneten und harmoniſchen Theile deſſelben, gleichſam zur
„Bildhauerey erſchaffen zu ſeyn ſcheinen ... Es findet ſich alſo die hohe Schoͤnheit, die nicht bloß
„in einer ſanften Haut, in einer bluͤhenden Farbe, in leichtfertigen oder ſchmachtenden Augen,
„ſondern in der Bildung und in der Form beſtehet, haͤufig in Laͤndern, die einen gleich — guͤtigen Him-
„mel genießen. — Wenn alſo nur die Jtaliaͤner die Schoͤnheit mahlen, und bilden koͤnnen, wie

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[48/0066] V. Fragment. Fuͤnftes Fragment. Ueber griechiſche Geſichter. Allgemein zugeſtanden iſt die hoͤhere Schoͤnheit der altgriechiſchen Menſchengeſtalt ... die itzt verſchwunden — und dennoch nicht ganz verſchwunden iſt — „Nicht zu gedenken, daß ihr Gebluͤt „einige Jahrhunderte hindurch mit dem Saamen ſo vieler Voͤlker, die ſich unter ihnen niedergelaſ- „ſen haben, vermiſcht worden, ſo iſt leicht einzuſehen, daß ihre itzige Verfaſſung, Erziehung, Un- „terricht, und Art zu denken, auch in ihre Bildung einen Einfluß haben koͤnne. Jn allen dieſen „nachtheiligen Umſtaͤnden iſt noch itzo das heutige griechiſche Gebluͤt wegen deſſen Schoͤnheit be- „ruͤhmt, und je mehr ſich die Natur dem griechiſchen Himmel naͤhert, deſto ſchoͤner, erhabener, „maͤchtiger iſt dieſelbe in Bildung der Menſchenkinder. Es finden ſich daher in den ſchoͤnſten Laͤn- „dern von Jtalien wenig halb entworfene, unbeſtimmte, und unbedeutende Zuͤge des Geſichtes, wie „haͤufig jenſeits der Alpen; ſondern ſie ſind theils erhaben, theils geiſtreich, und die Form des Ge- „ſichtes iſt mehrentheils groß und voͤllig, und die Theile derſelben in Uebereinſtimmung. Dieſe „vorzuͤgliche Bildung iſt ſo augenſcheinlich, daß der Kopf des geringſten Mannes unter dem Poͤ- „bel in dem erhabenſten hiſtoriſchen Gemaͤhlde koͤnnte angebracht werden.“ — (Ob hier nicht zween Superlatife ſeyen? vor denen wir Phyſiognomiſten uns weislich huͤten ſollten?) „Und un- „ter den Weibern dieſes Standes wuͤrde es nicht ſchwer ſeyn, auch an den geringſten Orten ein „Bild zu einer Juno zu finden. Neapel, welches mehr, als andere Laͤnder von Jtalien, einen ſanf- „ten Himmel, und eine gleichere und gemaͤßigtere Witterung genießt, weil es dem Himmelſtriche, „unter welchem das eigentliche Griechenland liegt, ſehr nahe iſt, hat haͤufig Formen und Bildun- „gen, die zum Modell eines ſchoͤnen Jdeals dienen koͤnnen, und welche in Abſicht der Form des „Geſichtes, und ſonderlich der ſtarkbezeichneten und harmoniſchen Theile deſſelben, gleichſam zur „Bildhauerey erſchaffen zu ſeyn ſcheinen ... Es findet ſich alſo die hohe Schoͤnheit, die nicht bloß „in einer ſanften Haut, in einer bluͤhenden Farbe, in leichtfertigen oder ſchmachtenden Augen, „ſondern in der Bildung und in der Form beſtehet, haͤufig in Laͤndern, die einen gleich — guͤtigen Him- „mel genießen. — Wenn alſo nur die Jtaliaͤner die Schoͤnheit mahlen, und bilden koͤnnen, wie ein

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777, S. 48. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente03_1777/66>, abgerufen am 25.04.2024.