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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778.

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II. Abschnitt. III. Fragment.
Laufen liegt's, wie einer ist; sondern an Gottes Erbarmen. Auch darf kein Gefäß zum
Töpfer sagen: warum hast du mich also gemacht? -- Aber der Herr, der Gerechte,
schneidet auch nicht, wo er nicht säete, und sammelt nicht, wo er nichts hinlegte. Aber
fordert mit Recht von dem, der fünf Talente empfieng, fünf andere damit gewonnen;
zwey gewonnen von dem, der zwey empfieng, und Eines von dem, der Eines em-
pfieng.

Drittes Fragment.
Physiognomischer Sinn, Genie, Ahndung.

Alle Menschen haben ein gewisses Maaß von physiognomischem Sinn, so wie sie alle Augen ha-
ben. So wie man weiß und schwarz ohne Räsonnement sogleich auf den ersten Blick unterschei-
det; so unterscheidet jeder Mensch, ohne Räsonnement, ohne Abstraktion, sogleich auf den ersten
Blick eine Menge guter und schlimmer, weiser und thörichter Physiognomien.

Durch nichts wird die Physiognomik so sicher als göttliche Wissenschaft dargethan,
als durch ihre innwohnende, natürliche Allgemeinheit, ihre Unaustilgbarkeit aus der menschlichen
Natur.

Laßt alle Sophisten in der Welt zusammen treten, und euch in die Länge und Queere de-
monstriren -- "Es giebt keine Physiognomik! das menschliche Gesicht trügt! seht auf die Hand-
"lungen; nicht aufs Gesicht!" -- Sie werden euch nur so lange und länger nicht überzeugen,
als ihr keine Menschen sehet; sobald ihr wieder in den Kreis der Menschen tretet -- werdet ihr diese
Sophistereyen vergessen, und Wahrheit fühlen. Es verhält sich mit dem physiognomischen Gefühle
gerade, wie mit dem moralischen. Schwatzt es weg -- wie ihr wollt; -- und seht einen Menschen
einen Menschen mit eigner Lebensgefahr vom Tode retten; ihr werdet der Narren und Unmenschen
lachen, oder sie beweinen -- die dieses Gefühls spotteten.

Alle Menschen ohne Ausnahme haben physiognomischen Sinn; physiognomisches Ahn-
dungsvermögen. Das Kind hat's; der Dümmste hat's; der Thor hats; das Thier hat's; das
Jnsekt hat's!

Dieser

II. Abſchnitt. III. Fragment.
Laufen liegt’s, wie einer iſt; ſondern an Gottes Erbarmen. Auch darf kein Gefaͤß zum
Toͤpfer ſagen: warum haſt du mich alſo gemacht? — Aber der Herr, der Gerechte,
ſchneidet auch nicht, wo er nicht ſaͤete, und ſammelt nicht, wo er nichts hinlegte. Aber
fordert mit Recht von dem, der fuͤnf Talente empfieng, fuͤnf andere damit gewonnen;
zwey gewonnen von dem, der zwey empfieng, und Eines von dem, der Eines em-
pfieng.

Drittes Fragment.
Phyſiognomiſcher Sinn, Genie, Ahndung.

Alle Menſchen haben ein gewiſſes Maaß von phyſiognomiſchem Sinn, ſo wie ſie alle Augen ha-
ben. So wie man weiß und ſchwarz ohne Raͤſonnement ſogleich auf den erſten Blick unterſchei-
det; ſo unterſcheidet jeder Menſch, ohne Raͤſonnement, ohne Abſtraktion, ſogleich auf den erſten
Blick eine Menge guter und ſchlimmer, weiſer und thoͤrichter Phyſiognomien.

Durch nichts wird die Phyſiognomik ſo ſicher als goͤttliche Wiſſenſchaft dargethan,
als durch ihre innwohnende, natuͤrliche Allgemeinheit, ihre Unaustilgbarkeit aus der menſchlichen
Natur.

Laßt alle Sophiſten in der Welt zuſammen treten, und euch in die Laͤnge und Queere de-
monſtriren — „Es giebt keine Phyſiognomik! das menſchliche Geſicht truͤgt! ſeht auf die Hand-
„lungen; nicht aufs Geſicht!“ — Sie werden euch nur ſo lange und laͤnger nicht uͤberzeugen,
als ihr keine Menſchen ſehet; ſobald ihr wieder in den Kreis der Menſchen tretet — werdet ihr dieſe
Sophiſtereyen vergeſſen, und Wahrheit fuͤhlen. Es verhaͤlt ſich mit dem phyſiognomiſchen Gefuͤhle
gerade, wie mit dem moraliſchen. Schwatzt es weg — wie ihr wollt; — und ſeht einen Menſchen
einen Menſchen mit eigner Lebensgefahr vom Tode retten; ihr werdet der Narren und Unmenſchen
lachen, oder ſie beweinen — die dieſes Gefuͤhls ſpotteten.

Alle Menſchen ohne Ausnahme haben phyſiognomiſchen Sinn; phyſiognomiſches Ahn-
dungsvermoͤgen. Das Kind hat’s; der Duͤmmſte hat’s; der Thor hats; das Thier hat’s; das
Jnſekt hat’s!

Dieſer
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[118/0146] II. Abſchnitt. III. Fragment. Laufen liegt’s, wie einer iſt; ſondern an Gottes Erbarmen. Auch darf kein Gefaͤß zum Toͤpfer ſagen: warum haſt du mich alſo gemacht? — Aber der Herr, der Gerechte, ſchneidet auch nicht, wo er nicht ſaͤete, und ſammelt nicht, wo er nichts hinlegte. Aber fordert mit Recht von dem, der fuͤnf Talente empfieng, fuͤnf andere damit gewonnen; zwey gewonnen von dem, der zwey empfieng, und Eines von dem, der Eines em- pfieng. Drittes Fragment. Phyſiognomiſcher Sinn, Genie, Ahndung. Alle Menſchen haben ein gewiſſes Maaß von phyſiognomiſchem Sinn, ſo wie ſie alle Augen ha- ben. So wie man weiß und ſchwarz ohne Raͤſonnement ſogleich auf den erſten Blick unterſchei- det; ſo unterſcheidet jeder Menſch, ohne Raͤſonnement, ohne Abſtraktion, ſogleich auf den erſten Blick eine Menge guter und ſchlimmer, weiſer und thoͤrichter Phyſiognomien. Durch nichts wird die Phyſiognomik ſo ſicher als goͤttliche Wiſſenſchaft dargethan, als durch ihre innwohnende, natuͤrliche Allgemeinheit, ihre Unaustilgbarkeit aus der menſchlichen Natur. Laßt alle Sophiſten in der Welt zuſammen treten, und euch in die Laͤnge und Queere de- monſtriren — „Es giebt keine Phyſiognomik! das menſchliche Geſicht truͤgt! ſeht auf die Hand- „lungen; nicht aufs Geſicht!“ — Sie werden euch nur ſo lange und laͤnger nicht uͤberzeugen, als ihr keine Menſchen ſehet; ſobald ihr wieder in den Kreis der Menſchen tretet — werdet ihr dieſe Sophiſtereyen vergeſſen, und Wahrheit fuͤhlen. Es verhaͤlt ſich mit dem phyſiognomiſchen Gefuͤhle gerade, wie mit dem moraliſchen. Schwatzt es weg — wie ihr wollt; — und ſeht einen Menſchen einen Menſchen mit eigner Lebensgefahr vom Tode retten; ihr werdet der Narren und Unmenſchen lachen, oder ſie beweinen — die dieſes Gefuͤhls ſpotteten. Alle Menſchen ohne Ausnahme haben phyſiognomiſchen Sinn; phyſiognomiſches Ahn- dungsvermoͤgen. Das Kind hat’s; der Duͤmmſte hat’s; der Thor hats; das Thier hat’s; das Jnſekt hat’s! Dieſer

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778, S. 118. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/146>, abgerufen am 19.04.2024.