Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778.

Bild:
<< vorherige Seite
II. Abschnitt. III. Fragment.

Es ist kein Mensch, so wenig Physiognomist er immer sey, so wenig er immer ähnliche
Menschen gesehen habe, dem sein allgemeines Sensorium der Menschheit zulasse, bey einem Men-
schen, wie die beyden nachstehenden sind, Rath zu suchen -- so wenig als er sich ihre Freundschaft
im Ernste ausbitten wird.

[Abbildung]

Auf den ersten Blick werden hierüber die Empfindungen gleichförmig seyn -- Es wird kei-
ner Untersuchung bedürfen. Der Beobachter wird freylich nachher finden, daß diese Perpendiku-
larität, diese Stirnform, diese fleischige Stumpfheit allgemeine Züge der Dummheit sind. Er wird
sie zergliedern, taxieren, vergleichen, aber vor der Zergliederung, Taxierung, Vergleichung, wird
er das fühlen. Er wird nachher den Grad der Dummheit, Schalkheit, Unempfänglichkeit, durch
ruhige Zergliederung und Vergleichung herausbringen, die Jngredienzien decomponiren; aber die
Hauptsumme, oder vielmehr eine große Summe wird er vor diesem allen ahnden.

V.

Bisher haben wir von dem allgemeinen physiognomischen Menschensinne geredet. Wie aber?
giebt es nicht auch einen besondern Sinn in Absicht auf das, was an andern Menschen
für uns besonders harmonisch oder disharmonisch ist? -- Jch glaube Ja! wohl verstan-

den,
II. Abſchnitt. III. Fragment.

Es iſt kein Menſch, ſo wenig Phyſiognomiſt er immer ſey, ſo wenig er immer aͤhnliche
Menſchen geſehen habe, dem ſein allgemeines Senſorium der Menſchheit zulaſſe, bey einem Men-
ſchen, wie die beyden nachſtehenden ſind, Rath zu ſuchen — ſo wenig als er ſich ihre Freundſchaft
im Ernſte ausbitten wird.

[Abbildung]

Auf den erſten Blick werden hieruͤber die Empfindungen gleichfoͤrmig ſeyn — Es wird kei-
ner Unterſuchung beduͤrfen. Der Beobachter wird freylich nachher finden, daß dieſe Perpendiku-
laritaͤt, dieſe Stirnform, dieſe fleiſchige Stumpfheit allgemeine Zuͤge der Dummheit ſind. Er wird
ſie zergliedern, taxieren, vergleichen, aber vor der Zergliederung, Taxierung, Vergleichung, wird
er das fuͤhlen. Er wird nachher den Grad der Dummheit, Schalkheit, Unempfaͤnglichkeit, durch
ruhige Zergliederung und Vergleichung herausbringen, die Jngredienzien decomponiren; aber die
Hauptſumme, oder vielmehr eine große Summe wird er vor dieſem allen ahnden.

V.

Bisher haben wir von dem allgemeinen phyſiognomiſchen Menſchenſinne geredet. Wie aber?
giebt es nicht auch einen beſondern Sinn in Abſicht auf das, was an andern Menſchen
fuͤr uns beſonders harmoniſch oder disharmoniſch iſt? — Jch glaube Ja! wohl verſtan-

den,
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <pb facs="#f0158" n="128"/>
              <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#b"><hi rendition="#aq">II.</hi> Ab&#x017F;chnitt. <hi rendition="#aq">III.</hi> Fragment.</hi> </fw><lb/>
              <p>Es i&#x017F;t kein Men&#x017F;ch, &#x017F;o wenig Phy&#x017F;iognomi&#x017F;t er immer &#x017F;ey, &#x017F;o wenig er immer a&#x0364;hnliche<lb/>
Men&#x017F;chen ge&#x017F;ehen habe, dem &#x017F;ein allgemeines Sen&#x017F;orium der Men&#x017F;chheit zula&#x017F;&#x017F;e, bey einem Men-<lb/>
&#x017F;chen, wie die beyden nach&#x017F;tehenden &#x017F;ind, Rath zu &#x017F;uchen &#x2014; &#x017F;o wenig als er &#x017F;ich ihre Freund&#x017F;chaft<lb/>
im Ern&#x017F;te ausbitten wird.</p><lb/>
              <figure/>
              <p>Auf den er&#x017F;ten Blick werden hieru&#x0364;ber die Empfindungen gleichfo&#x0364;rmig &#x017F;eyn &#x2014; Es wird kei-<lb/>
ner Unter&#x017F;uchung bedu&#x0364;rfen. Der Beobachter wird freylich nachher finden, daß die&#x017F;e Perpendiku-<lb/>
larita&#x0364;t, die&#x017F;e Stirnform, die&#x017F;e flei&#x017F;chige Stumpfheit allgemeine Zu&#x0364;ge der Dummheit &#x017F;ind. Er wird<lb/>
&#x017F;ie zergliedern, taxieren, vergleichen, aber vor der Zergliederung, Taxierung, Vergleichung, wird<lb/>
er das fu&#x0364;hlen. Er wird nachher den <hi rendition="#b">Grad</hi> der Dummheit, Schalkheit, Unempfa&#x0364;nglichkeit, durch<lb/>
ruhige Zergliederung und Vergleichung herausbringen, die Jngredienzien decomponiren; aber die<lb/>
Haupt&#x017F;umme, oder vielmehr eine große Summe wird er vor die&#x017F;em allen ahnden.</p>
            </div><lb/>
            <div n="4">
              <head> <hi rendition="#aq">V.</hi> </head><lb/>
              <p>Bisher haben wir von dem allgemeinen phy&#x017F;iognomi&#x017F;chen Men&#x017F;chen&#x017F;inne geredet. Wie aber?<lb/>
giebt es nicht auch einen <hi rendition="#b">be&#x017F;ondern Sinn in Ab&#x017F;icht auf das, was an andern Men&#x017F;chen</hi><lb/><hi rendition="#fr">fu&#x0364;r uns be&#x017F;onders</hi> <hi rendition="#b">harmoni&#x017F;ch oder disharmoni&#x017F;ch i&#x017F;t?</hi> &#x2014; Jch glaube <hi rendition="#b">Ja!</hi> wohl ver&#x017F;tan-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">den,</fw><lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[128/0158] II. Abſchnitt. III. Fragment. Es iſt kein Menſch, ſo wenig Phyſiognomiſt er immer ſey, ſo wenig er immer aͤhnliche Menſchen geſehen habe, dem ſein allgemeines Senſorium der Menſchheit zulaſſe, bey einem Men- ſchen, wie die beyden nachſtehenden ſind, Rath zu ſuchen — ſo wenig als er ſich ihre Freundſchaft im Ernſte ausbitten wird. [Abbildung] Auf den erſten Blick werden hieruͤber die Empfindungen gleichfoͤrmig ſeyn — Es wird kei- ner Unterſuchung beduͤrfen. Der Beobachter wird freylich nachher finden, daß dieſe Perpendiku- laritaͤt, dieſe Stirnform, dieſe fleiſchige Stumpfheit allgemeine Zuͤge der Dummheit ſind. Er wird ſie zergliedern, taxieren, vergleichen, aber vor der Zergliederung, Taxierung, Vergleichung, wird er das fuͤhlen. Er wird nachher den Grad der Dummheit, Schalkheit, Unempfaͤnglichkeit, durch ruhige Zergliederung und Vergleichung herausbringen, die Jngredienzien decomponiren; aber die Hauptſumme, oder vielmehr eine große Summe wird er vor dieſem allen ahnden. V. Bisher haben wir von dem allgemeinen phyſiognomiſchen Menſchenſinne geredet. Wie aber? giebt es nicht auch einen beſondern Sinn in Abſicht auf das, was an andern Menſchen fuͤr uns beſonders harmoniſch oder disharmoniſch iſt? — Jch glaube Ja! wohl verſtan- den,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/158
Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778, S. 128. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/158>, abgerufen am 28.03.2024.