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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778.

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Erstes Fragment.
Anmerkungen zu einer Abhandlung über Physiognomik, im Göt-
tinger Taschencalender aufs Jahr 1778.

Diese Abhandlung ist mit vielem Witze, vieler Zierlichkeit und einer sanft fortreissenden Bered-
samkeit geschrieben, und sie rührt von einem sehr gelehrten, sehr scharfsinnigen und in mancher Ab-
sicht verdienstvollen Manne her, der sehr viel Menschenkenntniß zu besitzen scheint, und ein
großes Maaß schnellen Beobachtungsgeistes, daß sie, des bescheidenen Platzes ungeachtet, den sie
sich, gleichsam zum Trutz anderer babylonischen Werke, in einem Taschencalender zu wählen belieb-
te, alle Aufmerksamkeit und Prüfung verdient. Sie ist so interessant, so weiteingreifend, so Ge-
legenheit gebend zu den wichtigsten physiognomischen Betrachtungen, die wir uns sonst noch vorbe-
halten hatten, daß ich diesen vierten Band nicht würdiger zu eröffnen weiß, als mit den wichtigsten
Stellen dieser Abhandlung und mit einer scharfen und unpartheyischen Prüfung derselben.

Es sey ferne von mir, mit dem ungenannten vortrefflichen Verfasser mich messen zu wollen;
ferne von mir, auf seine Laune, seinen blendenden Witz, am fernsten, auf seine Gelehrsamkeit und
Einsicht Anspruch zu machen. Jch wünscht' es, aber einfallen lassen darf ich mir's nicht, ihm mit
derjenigen Zierlichkeit begegnen zu können, wie sein auspolirter Geist und sein eleganter Geschmack
es zu erfordern scheinen. Jch fühle ganz das Lästige der Trockenheit, die mir eigen bleiben wird,
auch da, wo ich weiß, daß die Wahrheit auf meiner Seite ist. Aber darauf dürfen Sie rechnen,
würdiger Mann! daß ich nie unbillig seyn, daß ich auch da, wo ich von Jhnen abgehen muß, wo
ich mich in Jhre Aeußerungen nicht zu finden weiß, die Achtung nie vergessen werde, die ich Jhren
Talenten, Kenntnissen und Verdiensten schuldig bin.

Möchten wir uns nun beyde in Gedanken freundschaftlich neben einander setzen, Jhre Ab-
handlung vor uns nehmen, und uns freymüthig, wie es Männern, und gelassen, wie es Weisen
anständig ist -- über Wahrheit und Natur, wie uns beyden beyde erscheinen -- gegen einan-
der erklären!

Ueber
A 2
Erſtes Fragment.
Anmerkungen zu einer Abhandlung uͤber Phyſiognomik, im Goͤt-
tinger Taſchencalender aufs Jahr 1778.

Dieſe Abhandlung iſt mit vielem Witze, vieler Zierlichkeit und einer ſanft fortreiſſenden Bered-
ſamkeit geſchrieben, und ſie ruͤhrt von einem ſehr gelehrten, ſehr ſcharfſinnigen und in mancher Ab-
ſicht verdienſtvollen Manne her, der ſehr viel Menſchenkenntniß zu beſitzen ſcheint, und ein
großes Maaß ſchnellen Beobachtungsgeiſtes, daß ſie, des beſcheidenen Platzes ungeachtet, den ſie
ſich, gleichſam zum Trutz anderer babyloniſchen Werke, in einem Taſchencalender zu waͤhlen belieb-
te, alle Aufmerkſamkeit und Pruͤfung verdient. Sie iſt ſo intereſſant, ſo weiteingreifend, ſo Ge-
legenheit gebend zu den wichtigſten phyſiognomiſchen Betrachtungen, die wir uns ſonſt noch vorbe-
halten hatten, daß ich dieſen vierten Band nicht wuͤrdiger zu eroͤffnen weiß, als mit den wichtigſten
Stellen dieſer Abhandlung und mit einer ſcharfen und unpartheyiſchen Pruͤfung derſelben.

Es ſey ferne von mir, mit dem ungenannten vortrefflichen Verfaſſer mich meſſen zu wollen;
ferne von mir, auf ſeine Laune, ſeinen blendenden Witz, am fernſten, auf ſeine Gelehrſamkeit und
Einſicht Anſpruch zu machen. Jch wuͤnſcht’ es, aber einfallen laſſen darf ich mir’s nicht, ihm mit
derjenigen Zierlichkeit begegnen zu koͤnnen, wie ſein auspolirter Geiſt und ſein eleganter Geſchmack
es zu erfordern ſcheinen. Jch fuͤhle ganz das Laͤſtige der Trockenheit, die mir eigen bleiben wird,
auch da, wo ich weiß, daß die Wahrheit auf meiner Seite iſt. Aber darauf duͤrfen Sie rechnen,
wuͤrdiger Mann! daß ich nie unbillig ſeyn, daß ich auch da, wo ich von Jhnen abgehen muß, wo
ich mich in Jhre Aeußerungen nicht zu finden weiß, die Achtung nie vergeſſen werde, die ich Jhren
Talenten, Kenntniſſen und Verdienſten ſchuldig bin.

Moͤchten wir uns nun beyde in Gedanken freundſchaftlich neben einander ſetzen, Jhre Ab-
handlung vor uns nehmen, und uns freymuͤthig, wie es Maͤnnern, und gelaſſen, wie es Weiſen
anſtaͤndig iſt — uͤber Wahrheit und Natur, wie uns beyden beyde erſcheinen — gegen einan-
der erklaͤren!

Ueber
A 2
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[3/0019] Erſtes Fragment. Anmerkungen zu einer Abhandlung uͤber Phyſiognomik, im Goͤt- tinger Taſchencalender aufs Jahr 1778. Dieſe Abhandlung iſt mit vielem Witze, vieler Zierlichkeit und einer ſanft fortreiſſenden Bered- ſamkeit geſchrieben, und ſie ruͤhrt von einem ſehr gelehrten, ſehr ſcharfſinnigen und in mancher Ab- ſicht verdienſtvollen Manne her, der ſehr viel Menſchenkenntniß zu beſitzen ſcheint, und ein großes Maaß ſchnellen Beobachtungsgeiſtes, daß ſie, des beſcheidenen Platzes ungeachtet, den ſie ſich, gleichſam zum Trutz anderer babyloniſchen Werke, in einem Taſchencalender zu waͤhlen belieb- te, alle Aufmerkſamkeit und Pruͤfung verdient. Sie iſt ſo intereſſant, ſo weiteingreifend, ſo Ge- legenheit gebend zu den wichtigſten phyſiognomiſchen Betrachtungen, die wir uns ſonſt noch vorbe- halten hatten, daß ich dieſen vierten Band nicht wuͤrdiger zu eroͤffnen weiß, als mit den wichtigſten Stellen dieſer Abhandlung und mit einer ſcharfen und unpartheyiſchen Pruͤfung derſelben. Es ſey ferne von mir, mit dem ungenannten vortrefflichen Verfaſſer mich meſſen zu wollen; ferne von mir, auf ſeine Laune, ſeinen blendenden Witz, am fernſten, auf ſeine Gelehrſamkeit und Einſicht Anſpruch zu machen. Jch wuͤnſcht’ es, aber einfallen laſſen darf ich mir’s nicht, ihm mit derjenigen Zierlichkeit begegnen zu koͤnnen, wie ſein auspolirter Geiſt und ſein eleganter Geſchmack es zu erfordern ſcheinen. Jch fuͤhle ganz das Laͤſtige der Trockenheit, die mir eigen bleiben wird, auch da, wo ich weiß, daß die Wahrheit auf meiner Seite iſt. Aber darauf duͤrfen Sie rechnen, wuͤrdiger Mann! daß ich nie unbillig ſeyn, daß ich auch da, wo ich von Jhnen abgehen muß, wo ich mich in Jhre Aeußerungen nicht zu finden weiß, die Achtung nie vergeſſen werde, die ich Jhren Talenten, Kenntniſſen und Verdienſten ſchuldig bin. Moͤchten wir uns nun beyde in Gedanken freundſchaftlich neben einander ſetzen, Jhre Ab- handlung vor uns nehmen, und uns freymuͤthig, wie es Maͤnnern, und gelaſſen, wie es Weiſen anſtaͤndig iſt — uͤber Wahrheit und Natur, wie uns beyden beyde erſcheinen — gegen einan- der erklaͤren! Ueber A 2

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778, S. 3. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/19>, abgerufen am 29.03.2024.