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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778.

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Erstes Fragment.
Ueber die Stirne.

Jch hätte wohl beynahe Lust gehabt, einen besondern Band bloß über die menschliche Stirne --
diese animi januam, dieß templum pudoris, herauszugeben. Alles, was ich hier sagen kann, ist
zu wenig und zu viel. Um den Platz zu sparen, will ich nur meine eigenen Beobachtungen, ohne
Rücksicht auf anderer Urtheile, in den Text setzen. Uebrigens muß ich doch auch einmal eine Probe
geben -- was die meisten meiner Vorgänger von der Stirne sagen. Diese Probe wird zeigen:
wie sehr sie sich ausschreiben; -- wie unbestimmt sie sich ausdrücken; -- wie sehr sie sich selbst
widersprechen; -- und wie unvorsichtig und lieblos sie oft urtheilen -- Jch habe ihre Urtheile
über die Stirne gewählt -- vors erste weil sie mir der wichtigste und bestimmbarste Theil des
Gesichtes ist -- den ich am meisten beobachtet habe, und der von jedermann am leichtesten zu beob-
achten ist, über den ich also allenfalls hin und wieder ein Wort näherer Bestimmung, Berichtigung,
Ergänzung beyfügen kann. Und dann -- weil die Physiognomisten vor mir sich am meisten drü-
ber ausbreiten. -- Man kann denken, beynah alles Physiognomische über die Stirne gelesen zu ha-
ben, wenn man dieß gelesen hat -- Was die Chiromantisten und Metoposcopisten über die Linien
der Stirne schrieben, wird hier, wie natürlich, übergangen. Nicht daß alle Linien und Runzeln oh-
ne Charakter und Bedeutung seyn! Nicht daß sie nicht, wie alles in der Welt, in etwas ihren un-
mittelbaren Grund haben. Nicht daß dieß Etwas sich nicht aus ihnen erkennen lasse. Allein, was
diese Linien anzeigen, ist nicht Schicksal, wie die Metoposcopisten wollen, sondern ein bestimmtes Maaß
von Kraft, Mangel an Kraft, Reizbarkeit, Unreizbarkeit; Empfänglichkeit, Unempfäng-
lichkeit
-- aus welchem bestimmten Maaße sich freylich Schicksale ergeben können -- so wie ich
aus dem Reichthum oder der Armuth eines Menschen auf sein Schicksal schließen kann.



Meine eignen Bemerkungen über die Stirne des Menschen sind folgende:

Die Gestalt, Höhe, Wölbung, Proportion, Schiefheit und Lage des Schädels der
Stirn zeigt die Anlage, das Maaß der Kräfte, die Denkens- und Empfindensweise des Menschen.

Die
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Erſtes Fragment.
Ueber die Stirne.

Jch haͤtte wohl beynahe Luſt gehabt, einen beſondern Band bloß uͤber die menſchliche Stirne
dieſe animi januam, dieß templum pudoris, herauszugeben. Alles, was ich hier ſagen kann, iſt
zu wenig und zu viel. Um den Platz zu ſparen, will ich nur meine eigenen Beobachtungen, ohne
Ruͤckſicht auf anderer Urtheile, in den Text ſetzen. Uebrigens muß ich doch auch einmal eine Probe
geben — was die meiſten meiner Vorgaͤnger von der Stirne ſagen. Dieſe Probe wird zeigen:
wie ſehr ſie ſich ausſchreiben; — wie unbeſtimmt ſie ſich ausdruͤcken; — wie ſehr ſie ſich ſelbſt
widerſprechen; — und wie unvorſichtig und lieblos ſie oft urtheilen — Jch habe ihre Urtheile
uͤber die Stirne gewaͤhlt — vors erſte weil ſie mir der wichtigſte und beſtimmbarſte Theil des
Geſichtes iſt — den ich am meiſten beobachtet habe, und der von jedermann am leichteſten zu beob-
achten iſt, uͤber den ich alſo allenfalls hin und wieder ein Wort naͤherer Beſtimmung, Berichtigung,
Ergaͤnzung beyfuͤgen kann. Und dann — weil die Phyſiognomiſten vor mir ſich am meiſten druͤ-
ber ausbreiten. — Man kann denken, beynah alles Phyſiognomiſche uͤber die Stirne geleſen zu ha-
ben, wenn man dieß geleſen hat — Was die Chiromantiſten und Metopoſcopiſten uͤber die Linien
der Stirne ſchrieben, wird hier, wie natuͤrlich, uͤbergangen. Nicht daß alle Linien und Runzeln oh-
ne Charakter und Bedeutung ſeyn! Nicht daß ſie nicht, wie alles in der Welt, in etwas ihren un-
mittelbaren Grund haben. Nicht daß dieß Etwas ſich nicht aus ihnen erkennen laſſe. Allein, was
dieſe Linien anzeigen, iſt nicht Schickſal, wie die Metopoſcopiſten wollen, ſondern ein beſtimmtes Maaß
von Kraft, Mangel an Kraft, Reizbarkeit, Unreizbarkeit; Empfaͤnglichkeit, Unempfaͤng-
lichkeit
— aus welchem beſtimmten Maaße ſich freylich Schickſale ergeben koͤnnen — ſo wie ich
aus dem Reichthum oder der Armuth eines Menſchen auf ſein Schickſal ſchließen kann.



Meine eignen Bemerkungen uͤber die Stirne des Menſchen ſind folgende:

Die Geſtalt, Hoͤhe, Woͤlbung, Proportion, Schiefheit und Lage des Schaͤdels der
Stirn zeigt die Anlage, das Maaß der Kraͤfte, die Denkens- und Empfindensweiſe des Menſchen.

Die
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[219/0249] Erſtes Fragment. Ueber die Stirne. Jch haͤtte wohl beynahe Luſt gehabt, einen beſondern Band bloß uͤber die menſchliche Stirne — dieſe animi januam, dieß templum pudoris, herauszugeben. Alles, was ich hier ſagen kann, iſt zu wenig und zu viel. Um den Platz zu ſparen, will ich nur meine eigenen Beobachtungen, ohne Ruͤckſicht auf anderer Urtheile, in den Text ſetzen. Uebrigens muß ich doch auch einmal eine Probe geben — was die meiſten meiner Vorgaͤnger von der Stirne ſagen. Dieſe Probe wird zeigen: wie ſehr ſie ſich ausſchreiben; — wie unbeſtimmt ſie ſich ausdruͤcken; — wie ſehr ſie ſich ſelbſt widerſprechen; — und wie unvorſichtig und lieblos ſie oft urtheilen — Jch habe ihre Urtheile uͤber die Stirne gewaͤhlt — vors erſte weil ſie mir der wichtigſte und beſtimmbarſte Theil des Geſichtes iſt — den ich am meiſten beobachtet habe, und der von jedermann am leichteſten zu beob- achten iſt, uͤber den ich alſo allenfalls hin und wieder ein Wort naͤherer Beſtimmung, Berichtigung, Ergaͤnzung beyfuͤgen kann. Und dann — weil die Phyſiognomiſten vor mir ſich am meiſten druͤ- ber ausbreiten. — Man kann denken, beynah alles Phyſiognomiſche uͤber die Stirne geleſen zu ha- ben, wenn man dieß geleſen hat — Was die Chiromantiſten und Metopoſcopiſten uͤber die Linien der Stirne ſchrieben, wird hier, wie natuͤrlich, uͤbergangen. Nicht daß alle Linien und Runzeln oh- ne Charakter und Bedeutung ſeyn! Nicht daß ſie nicht, wie alles in der Welt, in etwas ihren un- mittelbaren Grund haben. Nicht daß dieß Etwas ſich nicht aus ihnen erkennen laſſe. Allein, was dieſe Linien anzeigen, iſt nicht Schickſal, wie die Metopoſcopiſten wollen, ſondern ein beſtimmtes Maaß von Kraft, Mangel an Kraft, Reizbarkeit, Unreizbarkeit; Empfaͤnglichkeit, Unempfaͤng- lichkeit — aus welchem beſtimmten Maaße ſich freylich Schickſale ergeben koͤnnen — ſo wie ich aus dem Reichthum oder der Armuth eines Menſchen auf ſein Schickſal ſchließen kann. Meine eignen Bemerkungen uͤber die Stirne des Menſchen ſind folgende: Die Geſtalt, Hoͤhe, Woͤlbung, Proportion, Schiefheit und Lage des Schaͤdels der Stirn zeigt die Anlage, das Maaß der Kraͤfte, die Denkens- und Empfindensweiſe des Menſchen. Die E e 2

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778, S. 219. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/249>, abgerufen am 29.03.2024.