Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778.

Bild:
<< vorherige Seite
Fünftes Fragment.
Ein Wort über die Nase.

Wohl nannten die Alten die Nase honestamentum faciei.

Es ist, glaube ich, schon irgendwo gesagt: Jch halte die Nase für die Wiederlage des
Gehirns. Wer die Lehre der gothischen Gewölbe halbweg einsieht, wird das Gleichnißwort Wie-
derlage
verstehen. Denn auf ihr scheint eigentlich alle die Kraft des Stirngewölbes zu ruhen, das
sonst in Mund und Wange elend zusammenstürzen würde.

Eine schöne Nase wird nie an einem schlechten Gesichte seyn. Man kann ein häßliches Ge-
sicht haben, und zierliche Augen. Aber nicht eine schöne Nase und ein häßliches Gesicht. Auch
finde ich tausend schöne Augen gegen eine einzige schöne Nase. Und wo ich sie fand, immer vortreff-
liche, immer ganz außerordentliche Charakter. Non cuique datum est, habere nasum. Zu
einer vollkommnen schönen Nase erfordre ich folgendes:

a) Jhre Länge soll der Stirnlänge gleich seyn. b) Bey der Wurzel muß eine kleine sanf-
te Vertiefung seyn. c) Von vornen betrachtet muß der Rücken (dorsum, spina nasi) breit und
beynahe parallel seyn, jedoch über der Mitte etwas breiter. d) Der Knopf der Nase, die Nasen-
kuppe, der Nasenball (orbiculus) muß weder hart noch fleischig seyn, und sein unterer Umriß muß
bestimmt und auffallend rein gezeichnet, nicht spitz und nicht sehr breit seyn. e) Die Nasenflügel
(pinnae) müssen von vornen bestimmt gesehen werden, und die Löcher müssen sich drunter lieblich
verkürzen. f) Jm Profile betrachtet, darf sie unten nicht mehr als einen Drittel ihrer Länge ha-
ben. g) Die Nasenlöcher müssen vornen etwas spitz, hinten runder, und überhaupt sanft geschweift
seyn, und durchs Profil der Oberlippe in zwey gleiche Theile getheilt werden. h) Die Seiten der
Nase oder des Nasengewölbes müssen beynahe wandartig seyn. i) Oben muß sie sich wohl an den
Bogen des Augenknochens anschließen, und beym Auge muß sie wenigstens einen halben Zoll Brei-
te haben. -- So eine Nase -- ist mehr werth als ein Königreich. Es giebt aber unzählige vor-
treffliche Menschen mit häßlichen Nasen. Aber ihre Vortrefflichkeit ist wiederum ganz verschieden
von anderer Menschen Vortrefflichkeit. Jch habe die reinsten, verständigsten, edelsten Geschöpfe

mit
Phys. Fragm. IV Versuch. K k
Fuͤnftes Fragment.
Ein Wort uͤber die Naſe.

Wohl nannten die Alten die Naſe honeſtamentum faciei.

Es iſt, glaube ich, ſchon irgendwo geſagt: Jch halte die Naſe fuͤr die Wiederlage des
Gehirns. Wer die Lehre der gothiſchen Gewoͤlbe halbweg einſieht, wird das Gleichnißwort Wie-
derlage
verſtehen. Denn auf ihr ſcheint eigentlich alle die Kraft des Stirngewoͤlbes zu ruhen, das
ſonſt in Mund und Wange elend zuſammenſtuͤrzen wuͤrde.

Eine ſchoͤne Naſe wird nie an einem ſchlechten Geſichte ſeyn. Man kann ein haͤßliches Ge-
ſicht haben, und zierliche Augen. Aber nicht eine ſchoͤne Naſe und ein haͤßliches Geſicht. Auch
finde ich tauſend ſchoͤne Augen gegen eine einzige ſchoͤne Naſe. Und wo ich ſie fand, immer vortreff-
liche, immer ganz außerordentliche Charakter. Non cuique datum eſt, habere naſum. Zu
einer vollkommnen ſchoͤnen Naſe erfordre ich folgendes:

a) Jhre Laͤnge ſoll der Stirnlaͤnge gleich ſeyn. b) Bey der Wurzel muß eine kleine ſanf-
te Vertiefung ſeyn. c) Von vornen betrachtet muß der Ruͤcken (dorſum, ſpina naſi) breit und
beynahe parallel ſeyn, jedoch uͤber der Mitte etwas breiter. d) Der Knopf der Naſe, die Naſen-
kuppe, der Naſenball (orbiculus) muß weder hart noch fleiſchig ſeyn, und ſein unterer Umriß muß
beſtimmt und auffallend rein gezeichnet, nicht ſpitz und nicht ſehr breit ſeyn. e) Die Naſenfluͤgel
(pinnae) muͤſſen von vornen beſtimmt geſehen werden, und die Loͤcher muͤſſen ſich drunter lieblich
verkuͤrzen. f) Jm Profile betrachtet, darf ſie unten nicht mehr als einen Drittel ihrer Laͤnge ha-
ben. g) Die Naſenloͤcher muͤſſen vornen etwas ſpitz, hinten runder, und uͤberhaupt ſanft geſchweift
ſeyn, und durchs Profil der Oberlippe in zwey gleiche Theile getheilt werden. h) Die Seiten der
Naſe oder des Naſengewoͤlbes muͤſſen beynahe wandartig ſeyn. i) Oben muß ſie ſich wohl an den
Bogen des Augenknochens anſchließen, und beym Auge muß ſie wenigſtens einen halben Zoll Brei-
te haben. — So eine Naſe — iſt mehr werth als ein Koͤnigreich. Es giebt aber unzaͤhlige vor-
treffliche Menſchen mit haͤßlichen Naſen. Aber ihre Vortrefflichkeit iſt wiederum ganz verſchieden
von anderer Menſchen Vortrefflichkeit. Jch habe die reinſten, verſtaͤndigſten, edelſten Geſchoͤpfe

mit
Phyſ. Fragm. IV Verſuch. K k
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0297" n="257"/>
          <div n="3">
            <head> <hi rendition="#b">Fu&#x0364;nftes Fragment.<lb/><hi rendition="#g">Ein Wort u&#x0364;ber die Na&#x017F;e.</hi></hi> </head><lb/>
            <p><hi rendition="#in">W</hi>ohl nannten die Alten die Na&#x017F;e <hi rendition="#aq">hone&#x017F;tamentum faciei.</hi></p><lb/>
            <p>Es i&#x017F;t, glaube ich, &#x017F;chon irgendwo ge&#x017F;agt: Jch halte die Na&#x017F;e fu&#x0364;r die <hi rendition="#fr">Wiederlage</hi> des<lb/>
Gehirns. Wer die Lehre der gothi&#x017F;chen Gewo&#x0364;lbe halbweg ein&#x017F;ieht, wird das Gleichnißwort <hi rendition="#fr">Wie-<lb/>
derlage</hi> ver&#x017F;tehen. Denn auf ihr &#x017F;cheint eigentlich alle die Kraft des Stirngewo&#x0364;lbes zu ruhen, das<lb/>
&#x017F;on&#x017F;t in Mund und Wange elend zu&#x017F;ammen&#x017F;tu&#x0364;rzen wu&#x0364;rde.</p><lb/>
            <p>Eine &#x017F;cho&#x0364;ne Na&#x017F;e wird nie an einem &#x017F;chlechten Ge&#x017F;ichte &#x017F;eyn. Man kann ein ha&#x0364;ßliches Ge-<lb/>
&#x017F;icht haben, und zierliche Augen. Aber nicht eine &#x017F;cho&#x0364;ne Na&#x017F;e und ein ha&#x0364;ßliches Ge&#x017F;icht. Auch<lb/>
finde ich tau&#x017F;end &#x017F;cho&#x0364;ne Augen gegen eine einzige &#x017F;cho&#x0364;ne Na&#x017F;e. Und wo ich &#x017F;ie fand, immer vortreff-<lb/>
liche, immer ganz außerordentliche Charakter. <hi rendition="#aq">Non cuique datum e&#x017F;t, habere na&#x017F;um.</hi> Zu<lb/>
einer vollkommnen &#x017F;cho&#x0364;nen Na&#x017F;e erfordre ich folgendes:</p><lb/>
            <p><hi rendition="#aq">a)</hi> Jhre La&#x0364;nge &#x017F;oll der Stirnla&#x0364;nge gleich &#x017F;eyn. <hi rendition="#aq">b)</hi> Bey der Wurzel muß eine kleine &#x017F;anf-<lb/>
te Vertiefung &#x017F;eyn. <hi rendition="#aq">c)</hi> Von vornen betrachtet muß der Ru&#x0364;cken <hi rendition="#aq">(dor&#x017F;um, &#x017F;pina na&#x017F;i)</hi> breit und<lb/>
beynahe parallel &#x017F;eyn, jedoch u&#x0364;ber der Mitte etwas breiter. <hi rendition="#aq">d)</hi> Der Knopf der Na&#x017F;e, die Na&#x017F;en-<lb/>
kuppe, der Na&#x017F;enball <hi rendition="#aq">(orbiculus)</hi> muß weder hart noch flei&#x017F;chig &#x017F;eyn, und &#x017F;ein unterer Umriß muß<lb/>
be&#x017F;timmt und auffallend rein gezeichnet, nicht &#x017F;pitz und nicht &#x017F;ehr breit &#x017F;eyn. <hi rendition="#aq">e)</hi> Die Na&#x017F;enflu&#x0364;gel<lb/><hi rendition="#aq">(pinnae)</hi> mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en von vornen be&#x017F;timmt ge&#x017F;ehen werden, und die Lo&#x0364;cher mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en &#x017F;ich drunter lieblich<lb/>
verku&#x0364;rzen. <hi rendition="#aq">f)</hi> Jm Profile betrachtet, darf &#x017F;ie unten nicht mehr als einen Drittel ihrer La&#x0364;nge ha-<lb/>
ben. <hi rendition="#aq">g)</hi> Die Na&#x017F;enlo&#x0364;cher mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en vornen etwas &#x017F;pitz, hinten runder, und u&#x0364;berhaupt &#x017F;anft ge&#x017F;chweift<lb/>
&#x017F;eyn, und durchs Profil der Oberlippe in zwey gleiche Theile getheilt werden. <hi rendition="#aq">h)</hi> Die Seiten der<lb/>
Na&#x017F;e oder des Na&#x017F;engewo&#x0364;lbes mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en beynahe wandartig &#x017F;eyn. <hi rendition="#aq">i)</hi> Oben muß &#x017F;ie &#x017F;ich wohl an den<lb/>
Bogen des Augenknochens an&#x017F;chließen, und beym Auge muß &#x017F;ie wenig&#x017F;tens einen halben Zoll Brei-<lb/>
te haben. &#x2014; So eine Na&#x017F;e &#x2014; i&#x017F;t mehr werth als ein Ko&#x0364;nigreich. Es giebt aber unza&#x0364;hlige vor-<lb/>
treffliche Men&#x017F;chen mit ha&#x0364;ßlichen Na&#x017F;en. Aber ihre Vortrefflichkeit i&#x017F;t wiederum ganz ver&#x017F;chieden<lb/>
von anderer Men&#x017F;chen Vortrefflichkeit. Jch habe die rein&#x017F;ten, ver&#x017F;ta&#x0364;ndig&#x017F;ten, edel&#x017F;ten Ge&#x017F;cho&#x0364;pfe<lb/>
<fw place="bottom" type="sig"><hi rendition="#fr">Phy&#x017F;. Fragm.</hi><hi rendition="#aq">IV</hi><hi rendition="#fr">Ver&#x017F;uch.</hi> K k</fw><fw place="bottom" type="catch">mit</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[257/0297] Fuͤnftes Fragment. Ein Wort uͤber die Naſe. Wohl nannten die Alten die Naſe honeſtamentum faciei. Es iſt, glaube ich, ſchon irgendwo geſagt: Jch halte die Naſe fuͤr die Wiederlage des Gehirns. Wer die Lehre der gothiſchen Gewoͤlbe halbweg einſieht, wird das Gleichnißwort Wie- derlage verſtehen. Denn auf ihr ſcheint eigentlich alle die Kraft des Stirngewoͤlbes zu ruhen, das ſonſt in Mund und Wange elend zuſammenſtuͤrzen wuͤrde. Eine ſchoͤne Naſe wird nie an einem ſchlechten Geſichte ſeyn. Man kann ein haͤßliches Ge- ſicht haben, und zierliche Augen. Aber nicht eine ſchoͤne Naſe und ein haͤßliches Geſicht. Auch finde ich tauſend ſchoͤne Augen gegen eine einzige ſchoͤne Naſe. Und wo ich ſie fand, immer vortreff- liche, immer ganz außerordentliche Charakter. Non cuique datum eſt, habere naſum. Zu einer vollkommnen ſchoͤnen Naſe erfordre ich folgendes: a) Jhre Laͤnge ſoll der Stirnlaͤnge gleich ſeyn. b) Bey der Wurzel muß eine kleine ſanf- te Vertiefung ſeyn. c) Von vornen betrachtet muß der Ruͤcken (dorſum, ſpina naſi) breit und beynahe parallel ſeyn, jedoch uͤber der Mitte etwas breiter. d) Der Knopf der Naſe, die Naſen- kuppe, der Naſenball (orbiculus) muß weder hart noch fleiſchig ſeyn, und ſein unterer Umriß muß beſtimmt und auffallend rein gezeichnet, nicht ſpitz und nicht ſehr breit ſeyn. e) Die Naſenfluͤgel (pinnae) muͤſſen von vornen beſtimmt geſehen werden, und die Loͤcher muͤſſen ſich drunter lieblich verkuͤrzen. f) Jm Profile betrachtet, darf ſie unten nicht mehr als einen Drittel ihrer Laͤnge ha- ben. g) Die Naſenloͤcher muͤſſen vornen etwas ſpitz, hinten runder, und uͤberhaupt ſanft geſchweift ſeyn, und durchs Profil der Oberlippe in zwey gleiche Theile getheilt werden. h) Die Seiten der Naſe oder des Naſengewoͤlbes muͤſſen beynahe wandartig ſeyn. i) Oben muß ſie ſich wohl an den Bogen des Augenknochens anſchließen, und beym Auge muß ſie wenigſtens einen halben Zoll Brei- te haben. — So eine Naſe — iſt mehr werth als ein Koͤnigreich. Es giebt aber unzaͤhlige vor- treffliche Menſchen mit haͤßlichen Naſen. Aber ihre Vortrefflichkeit iſt wiederum ganz verſchieden von anderer Menſchen Vortrefflichkeit. Jch habe die reinſten, verſtaͤndigſten, edelſten Geſchoͤpfe mit Phyſ. Fragm. IV Verſuch. K k

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/297
Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778, S. 257. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/297>, abgerufen am 29.03.2024.