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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778.

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Beylagen verschiedener Porträte.
Fähigkeit, mit Theilnehmung und Ueberlegung zu horchen, scheint mir in den Augen, und beson-
ders in den Falten am obern Augenliede zu liegen. --

Seine ganze Gestalt war groß, edel, prächtig. Was er that, that er mit Würde und Be-
scheidenheit. Man sieht den Augen, den Augenbraunen und der Falte in der Mitte der Stirn an,
daß der Mann auch zürnen konnte. Aber sein Zorn war immer Zorn eines würdigen Mannes --
und war niemandem furchtbar -- als der Falschheit und der Ungerechtigkeit. Er konnte sich sehr
halten -- und in bewundernswürdiger Einfalt und Ruhe bleiben, wo nicht krumme schleichende
Bosheit ihn reizte. -- Der Zorn mußte vor seinem sanften Ernste den Finger auf den Mund legen,
und ich sah ihn mehr als einmal gleich einem sanften Winde ein Gewitter mit einem Blicke, einem
Tone -- verwehen. -- Auch der Neid wurde durch seine Bescheidenheit beschämt, und hatte keinen
Verdacht in seine Redlichkeit -- seine Hochachtung für Religion und Tugend.

[Spaltenumbruch]
O wie, wie's unsern Herzen war,
Wenn wir von fern ihn sahn!
Wie durfte kindlich froh die Schaar
Der Waysen ihm sich nahn!


Wie Ernst und Weisheit und Geduld
Jn seinem Antlitz lag!
Sein Blick voll Treu und Kraft und Huld
War wie ein heller Tag.


Vor seiner Kraft, vor seinem Blick
Ward Stolz und Lüge schwach!
Des Heuchlers Auge floh zurück,
Wenn er von Tugend sprach.
[Spaltenumbruch]
Wenn er im Gotteshause saß,
Wie war er horchend Ohr!
Sein Aug, von frommen naß,
Hob uns zu Gott empor.


Der Tugend, o so Seelenhold!
So ganz des Truges Feind;
So unverführbar durch das Gold,
Wie durch den Herzensfreund!


Gerechtigkeit und Ordnung war
Gedank' ihm, Wunsch und That --
Zeugs Waysenhaus und Waysenschaar,
Und zeug' es ganzer Staat!
Beylage D. Zwölf Mannsköpfe.
Des IV Ban-
des XLIII.
Tafel. H.

Auf Einem Blatte hier die verschiedensten Charakter, die meisten groß in ihrer Art --
groß durch Kraft oder durch Güte.

1. Kar-
Phys. Fragm. IV Versuch. F f f

Beylagen verſchiedener Portraͤte.
Faͤhigkeit, mit Theilnehmung und Ueberlegung zu horchen, ſcheint mir in den Augen, und beſon-
ders in den Falten am obern Augenliede zu liegen. —

Seine ganze Geſtalt war groß, edel, praͤchtig. Was er that, that er mit Wuͤrde und Be-
ſcheidenheit. Man ſieht den Augen, den Augenbraunen und der Falte in der Mitte der Stirn an,
daß der Mann auch zuͤrnen konnte. Aber ſein Zorn war immer Zorn eines wuͤrdigen Mannes —
und war niemandem furchtbar — als der Falſchheit und der Ungerechtigkeit. Er konnte ſich ſehr
halten — und in bewundernswuͤrdiger Einfalt und Ruhe bleiben, wo nicht krumme ſchleichende
Bosheit ihn reizte. — Der Zorn mußte vor ſeinem ſanften Ernſte den Finger auf den Mund legen,
und ich ſah ihn mehr als einmal gleich einem ſanften Winde ein Gewitter mit einem Blicke, einem
Tone — verwehen. — Auch der Neid wurde durch ſeine Beſcheidenheit beſchaͤmt, und hatte keinen
Verdacht in ſeine Redlichkeit — ſeine Hochachtung fuͤr Religion und Tugend.

[Spaltenumbruch]
O wie, wie’s unſern Herzen war,
Wenn wir von fern ihn ſahn!
Wie durfte kindlich froh die Schaar
Der Wayſen ihm ſich nahn!


Wie Ernſt und Weisheit und Geduld
Jn ſeinem Antlitz lag!
Sein Blick voll Treu und Kraft und Huld
War wie ein heller Tag.


Vor ſeiner Kraft, vor ſeinem Blick
Ward Stolz und Luͤge ſchwach!
Des Heuchlers Auge floh zuruͤck,
Wenn er von Tugend ſprach.
[Spaltenumbruch]
Wenn er im Gotteshauſe ſaß,
Wie war er horchend Ohr!
Sein Aug, von frommen naß,
Hob uns zu Gott empor.


Der Tugend, o ſo Seelenhold!
So ganz des Truges Feind;
So unverfuͤhrbar durch das Gold,
Wie durch den Herzensfreund!


Gerechtigkeit und Ordnung war
Gedank’ ihm, Wunſch und That —
Zeugs Wayſenhaus und Wayſenſchaar,
Und zeug’ es ganzer Staat!
Beylage D. Zwoͤlf Mannskoͤpfe.
Des IV Ban-
des XLIII.
Tafel. H.

Auf Einem Blatte hier die verſchiedenſten Charakter, die meiſten groß in ihrer Art —
groß durch Kraft oder durch Guͤte.

1. Kar-
Phyſ. Fragm. IV Verſuch. F f f
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[409/0509] Beylagen verſchiedener Portraͤte. Faͤhigkeit, mit Theilnehmung und Ueberlegung zu horchen, ſcheint mir in den Augen, und beſon- ders in den Falten am obern Augenliede zu liegen. — Seine ganze Geſtalt war groß, edel, praͤchtig. Was er that, that er mit Wuͤrde und Be- ſcheidenheit. Man ſieht den Augen, den Augenbraunen und der Falte in der Mitte der Stirn an, daß der Mann auch zuͤrnen konnte. Aber ſein Zorn war immer Zorn eines wuͤrdigen Mannes — und war niemandem furchtbar — als der Falſchheit und der Ungerechtigkeit. Er konnte ſich ſehr halten — und in bewundernswuͤrdiger Einfalt und Ruhe bleiben, wo nicht krumme ſchleichende Bosheit ihn reizte. — Der Zorn mußte vor ſeinem ſanften Ernſte den Finger auf den Mund legen, und ich ſah ihn mehr als einmal gleich einem ſanften Winde ein Gewitter mit einem Blicke, einem Tone — verwehen. — Auch der Neid wurde durch ſeine Beſcheidenheit beſchaͤmt, und hatte keinen Verdacht in ſeine Redlichkeit — ſeine Hochachtung fuͤr Religion und Tugend. O wie, wie’s unſern Herzen war, Wenn wir von fern ihn ſahn! Wie durfte kindlich froh die Schaar Der Wayſen ihm ſich nahn! Wie Ernſt und Weisheit und Geduld Jn ſeinem Antlitz lag! Sein Blick voll Treu und Kraft und Huld War wie ein heller Tag. Vor ſeiner Kraft, vor ſeinem Blick Ward Stolz und Luͤge ſchwach! Des Heuchlers Auge floh zuruͤck, Wenn er von Tugend ſprach. Wenn er im Gotteshauſe ſaß, Wie war er horchend Ohr! Sein Aug, von frommen naß, Hob uns zu Gott empor. Der Tugend, o ſo Seelenhold! So ganz des Truges Feind; So unverfuͤhrbar durch das Gold, Wie durch den Herzensfreund! Gerechtigkeit und Ordnung war Gedank’ ihm, Wunſch und That — Zeugs Wayſenhaus und Wayſenſchaar, Und zeug’ es ganzer Staat! Beylage D. Zwoͤlf Mannskoͤpfe. Auf Einem Blatte hier die verſchiedenſten Charakter, die meiſten groß in ihrer Art — groß durch Kraft oder durch Guͤte. 1. Kar- Phyſ. Fragm. IV Verſuch. F f f

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778, S. 409. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/509>, abgerufen am 29.03.2024.