Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778.

Bild:
<< vorherige Seite

I. Abschnitt. X. Fragment. Genie. I. Zugabe.
der innere Sinn der Empfänglichkeit dazu vorhanden sey -- so wenig es sich begreiflich machen,
vertheidigen, vordemonstriren läßt; so unbegreiflich und unvertheidiglich ist alles eigenthümliche, rei-
ne Wesen des Genies. Sich über Sachen des Genies vertheidigen, ihre Genialität darthun, be-
greiflich machen wollen -- heißt: demonstriren wollen, daß man ist. Die Göttlichkeit aller göttli-
chen Dinge muß gefühlt werden. Wie die Göttlichkeit einer Physiognomie durch keine Zergliede-
rung dem fühlbar gemacht werden kann, der sie nicht vor der Zergliederung fühlte. Wer Genie
vertheidigt, ist gewiß kein Genie. Und wer Vertheidigung fordert, gewiß ein schwacher Kopf. Der
Genius Sokrates hielt ihn ab, sich vor dem Blutgerichte zu vertheidigen. Die Dunsen, die die
Messiade in Empfang nahmen, vermochten mit alle ihrem Geschrey Klopstocken nicht, mit Ei-
nem Worte sich zu vertheidigen. Die Schreyer haben sich verlaufen, und die Messiade steht. Alle
Jnsektenheere von Regelmännern, die an Milton und Shakespear nagten -- haben sie ein Haar
von ihrer Genialität abnagen können?

"Magister Duns -- mit welcher Wonne
"Des Neides krittelt er -- Genie!
"Sieht jedes Fleckgen an der Sonne,
"Und sieht die Sonne selber -- nie!

Unbegreiflich ist jede Empfindung des Genies dem Ungenie, wie das Licht dem
Blinden. Und so ist's auch seine Physiognomie. Das, was sie als Genie charakterisirt -- ich mey-
ne dem Gefühle, ist ein anziehender und zurückstoßender Geist, der von seinem Gesichte, besonders
von seinen Augen auszugehen scheint; etwas Schwebendes, Fliegendes -- Unerhaschbares, das je-
den Pinsel toll macht!

"Das Genie erweckt gemeiniglich ein blutreiches und hoffnungsvolles Temperament --
"allein, wenn gleich das Genie einen natürlichen Trieb hat, eine muntere und sanguinische Stim-
"mung der Seele hervorzubringen, welche seine gewöhnliche Gefährtinn ist, und welche es sorgfäl-
"tig zu erhalten sucht, wenn nicht wiederholte Mißlingungen ihm den Muth niederschlagen; so pflegt
"es doch auch zu gleicher Zeit ein anders, noch merklicheres und minder wandelbares Kennzeichen
"an sich zu tragen, nämlich eine erhabene, sanfte und tiefsinnige Melancholie. Diese Gemüthsver-
"fassung ist wirklich die unzertrennlichste Gefährtinn des Genies." (Jch möchte sagen: die Mutter

des

I. Abſchnitt. X. Fragment. Genie. I. Zugabe.
der innere Sinn der Empfaͤnglichkeit dazu vorhanden ſey — ſo wenig es ſich begreiflich machen,
vertheidigen, vordemonſtriren laͤßt; ſo unbegreiflich und unvertheidiglich iſt alles eigenthuͤmliche, rei-
ne Weſen des Genies. Sich uͤber Sachen des Genies vertheidigen, ihre Genialitaͤt darthun, be-
greiflich machen wollen — heißt: demonſtriren wollen, daß man iſt. Die Goͤttlichkeit aller goͤttli-
chen Dinge muß gefuͤhlt werden. Wie die Goͤttlichkeit einer Phyſiognomie durch keine Zergliede-
rung dem fuͤhlbar gemacht werden kann, der ſie nicht vor der Zergliederung fuͤhlte. Wer Genie
vertheidigt, iſt gewiß kein Genie. Und wer Vertheidigung fordert, gewiß ein ſchwacher Kopf. Der
Genius Sokrates hielt ihn ab, ſich vor dem Blutgerichte zu vertheidigen. Die Dunſen, die die
Meſſiade in Empfang nahmen, vermochten mit alle ihrem Geſchrey Klopſtocken nicht, mit Ei-
nem Worte ſich zu vertheidigen. Die Schreyer haben ſich verlaufen, und die Meſſiade ſteht. Alle
Jnſektenheere von Regelmaͤnnern, die an Milton und Shakeſpear nagten — haben ſie ein Haar
von ihrer Genialitaͤt abnagen koͤnnen?

„Magiſter Duns — mit welcher Wonne
„Des Neides krittelt er — Genie!
„Sieht jedes Fleckgen an der Sonne,
„Und ſieht die Sonne ſelber — nie!

Unbegreiflich iſt jede Empfindung des Genies dem Ungenie, wie das Licht dem
Blinden. Und ſo iſt’s auch ſeine Phyſiognomie. Das, was ſie als Genie charakteriſirt — ich mey-
ne dem Gefuͤhle, iſt ein anziehender und zuruͤckſtoßender Geiſt, der von ſeinem Geſichte, beſonders
von ſeinen Augen auszugehen ſcheint; etwas Schwebendes, Fliegendes — Unerhaſchbares, das je-
den Pinſel toll macht!

„Das Genie erweckt gemeiniglich ein blutreiches und hoffnungsvolles Temperament —
„allein, wenn gleich das Genie einen natuͤrlichen Trieb hat, eine muntere und ſanguiniſche Stim-
„mung der Seele hervorzubringen, welche ſeine gewoͤhnliche Gefaͤhrtinn iſt, und welche es ſorgfaͤl-
„tig zu erhalten ſucht, wenn nicht wiederholte Mißlingungen ihm den Muth niederſchlagen; ſo pflegt
„es doch auch zu gleicher Zeit ein anders, noch merklicheres und minder wandelbares Kennzeichen
„an ſich zu tragen, naͤmlich eine erhabene, ſanfte und tiefſinnige Melancholie. Dieſe Gemuͤthsver-
„faſſung iſt wirklich die unzertrennlichſte Gefaͤhrtinn des Genies.“ (Jch moͤchte ſagen: die Mutter

des
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0123" n="95"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b"><hi rendition="#aq">I.</hi> Ab&#x017F;chnitt. <hi rendition="#aq">X.</hi> Fragment. Genie. <hi rendition="#aq">I.</hi> Zugabe.</hi></fw><lb/>
der innere Sinn der Empfa&#x0364;nglichkeit dazu vorhanden &#x017F;ey &#x2014; &#x017F;o wenig es &#x017F;ich begreiflich machen,<lb/>
vertheidigen, vordemon&#x017F;triren la&#x0364;ßt; &#x017F;o unbegreiflich und unvertheidiglich i&#x017F;t alles eigenthu&#x0364;mliche, rei-<lb/>
ne We&#x017F;en des Genies. Sich u&#x0364;ber Sachen des <hi rendition="#b">Genies</hi> vertheidigen, ihre Genialita&#x0364;t darthun, be-<lb/>
greiflich machen wollen &#x2014; heißt: demon&#x017F;triren wollen, daß man i&#x017F;t. Die Go&#x0364;ttlichkeit aller go&#x0364;ttli-<lb/>
chen Dinge muß gefu&#x0364;hlt werden. Wie die Go&#x0364;ttlichkeit einer Phy&#x017F;iognomie durch keine Zergliede-<lb/>
rung <hi rendition="#b">dem</hi> fu&#x0364;hlbar gemacht werden kann, der &#x017F;ie nicht <hi rendition="#b">vor</hi> der Zergliederung fu&#x0364;hlte. Wer Genie<lb/>
vertheidigt, i&#x017F;t gewiß kein Genie. Und wer Vertheidigung <hi rendition="#b">fordert,</hi> gewiß ein &#x017F;chwacher Kopf. Der<lb/>
Genius <hi rendition="#b">Sokrates</hi> hielt ihn ab, &#x017F;ich vor dem Blutgerichte zu vertheidigen. Die Dun&#x017F;en, die die<lb/><hi rendition="#b">Me&#x017F;&#x017F;iade</hi> in Empfang nahmen, vermochten mit alle ihrem Ge&#x017F;chrey <hi rendition="#b">Klop&#x017F;tocken</hi> nicht, mit Ei-<lb/>
nem Worte &#x017F;ich zu vertheidigen. Die Schreyer haben &#x017F;ich verlaufen, und die Me&#x017F;&#x017F;iade &#x017F;teht. Alle<lb/>
Jn&#x017F;ektenheere von Regelma&#x0364;nnern, die an <hi rendition="#b">Milton</hi> und <hi rendition="#b">Shake&#x017F;pear</hi> nagten &#x2014; haben &#x017F;ie ein Haar<lb/>
von ihrer Genialita&#x0364;t abnagen ko&#x0364;nnen?</p><lb/>
              <lg type="poem">
                <l>&#x201E;Magi&#x017F;ter Duns &#x2014; mit welcher Wonne</l><lb/>
                <l>&#x201E;Des Neides krittelt er &#x2014; Genie!</l><lb/>
                <l>&#x201E;Sieht jedes Fleckgen an der Sonne,</l><lb/>
                <l>&#x201E;Und &#x017F;ieht die Sonne &#x017F;elber &#x2014; nie!</l>
              </lg><lb/>
              <p><hi rendition="#b">Unbegreiflich</hi> i&#x017F;t jede <hi rendition="#b">Empfindung</hi> des <hi rendition="#b">Genies</hi> dem <hi rendition="#b">Ungenie,</hi> wie das Licht dem<lb/>
Blinden. Und &#x017F;o i&#x017F;t&#x2019;s auch &#x017F;eine Phy&#x017F;iognomie. Das, was &#x017F;ie als <hi rendition="#b">Genie</hi> charakteri&#x017F;irt &#x2014; ich mey-<lb/>
ne dem <hi rendition="#b">Gefu&#x0364;hle,</hi> i&#x017F;t ein anziehender und zuru&#x0364;ck&#x017F;toßender Gei&#x017F;t, der von &#x017F;einem Ge&#x017F;ichte, be&#x017F;onders<lb/>
von &#x017F;einen Augen auszugehen &#x017F;cheint; etwas Schwebendes, Fliegendes &#x2014; Unerha&#x017F;chbares, das je-<lb/>
den Pin&#x017F;el toll macht!</p><lb/>
              <p>&#x201E;Das Genie erweckt gemeiniglich ein blutreiches und hoffnungsvolles Temperament &#x2014;<lb/>
&#x201E;allein, wenn gleich das Genie einen natu&#x0364;rlichen Trieb hat, eine muntere und &#x017F;anguini&#x017F;che Stim-<lb/>
&#x201E;mung der Seele hervorzubringen, welche &#x017F;eine gewo&#x0364;hnliche Gefa&#x0364;hrtinn i&#x017F;t, und welche es &#x017F;orgfa&#x0364;l-<lb/>
&#x201E;tig zu erhalten &#x017F;ucht, wenn nicht wiederholte Mißlingungen ihm den Muth nieder&#x017F;chlagen; &#x017F;o pflegt<lb/>
&#x201E;es doch auch zu gleicher Zeit ein anders, noch merklicheres und minder wandelbares Kennzeichen<lb/>
&#x201E;an &#x017F;ich zu tragen, na&#x0364;mlich eine erhabene, &#x017F;anfte und tief&#x017F;innige Melancholie. Die&#x017F;e Gemu&#x0364;thsver-<lb/>
&#x201E;fa&#x017F;&#x017F;ung i&#x017F;t wirklich die unzertrennlich&#x017F;te Gefa&#x0364;hrtinn des Genies.&#x201C; (Jch mo&#x0364;chte &#x017F;agen: die Mutter<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">des</fw><lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[95/0123] I. Abſchnitt. X. Fragment. Genie. I. Zugabe. der innere Sinn der Empfaͤnglichkeit dazu vorhanden ſey — ſo wenig es ſich begreiflich machen, vertheidigen, vordemonſtriren laͤßt; ſo unbegreiflich und unvertheidiglich iſt alles eigenthuͤmliche, rei- ne Weſen des Genies. Sich uͤber Sachen des Genies vertheidigen, ihre Genialitaͤt darthun, be- greiflich machen wollen — heißt: demonſtriren wollen, daß man iſt. Die Goͤttlichkeit aller goͤttli- chen Dinge muß gefuͤhlt werden. Wie die Goͤttlichkeit einer Phyſiognomie durch keine Zergliede- rung dem fuͤhlbar gemacht werden kann, der ſie nicht vor der Zergliederung fuͤhlte. Wer Genie vertheidigt, iſt gewiß kein Genie. Und wer Vertheidigung fordert, gewiß ein ſchwacher Kopf. Der Genius Sokrates hielt ihn ab, ſich vor dem Blutgerichte zu vertheidigen. Die Dunſen, die die Meſſiade in Empfang nahmen, vermochten mit alle ihrem Geſchrey Klopſtocken nicht, mit Ei- nem Worte ſich zu vertheidigen. Die Schreyer haben ſich verlaufen, und die Meſſiade ſteht. Alle Jnſektenheere von Regelmaͤnnern, die an Milton und Shakeſpear nagten — haben ſie ein Haar von ihrer Genialitaͤt abnagen koͤnnen? „Magiſter Duns — mit welcher Wonne „Des Neides krittelt er — Genie! „Sieht jedes Fleckgen an der Sonne, „Und ſieht die Sonne ſelber — nie! Unbegreiflich iſt jede Empfindung des Genies dem Ungenie, wie das Licht dem Blinden. Und ſo iſt’s auch ſeine Phyſiognomie. Das, was ſie als Genie charakteriſirt — ich mey- ne dem Gefuͤhle, iſt ein anziehender und zuruͤckſtoßender Geiſt, der von ſeinem Geſichte, beſonders von ſeinen Augen auszugehen ſcheint; etwas Schwebendes, Fliegendes — Unerhaſchbares, das je- den Pinſel toll macht! „Das Genie erweckt gemeiniglich ein blutreiches und hoffnungsvolles Temperament — „allein, wenn gleich das Genie einen natuͤrlichen Trieb hat, eine muntere und ſanguiniſche Stim- „mung der Seele hervorzubringen, welche ſeine gewoͤhnliche Gefaͤhrtinn iſt, und welche es ſorgfaͤl- „tig zu erhalten ſucht, wenn nicht wiederholte Mißlingungen ihm den Muth niederſchlagen; ſo pflegt „es doch auch zu gleicher Zeit ein anders, noch merklicheres und minder wandelbares Kennzeichen „an ſich zu tragen, naͤmlich eine erhabene, ſanfte und tiefſinnige Melancholie. Dieſe Gemuͤthsver- „faſſung iſt wirklich die unzertrennlichſte Gefaͤhrtinn des Genies.“ (Jch moͤchte ſagen: die Mutter des

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/123
Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778, S. 95. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/123>, abgerufen am 19.04.2024.