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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778.

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Einige physiognomische Anekdoten.
Man sprach von 3, 4, 500 Guineen -- "Jch will erst das Gesicht sehen, sagte er, ehe ich ja sage."
Dem Mahler ward Gelegenheit verschafft, die Dame zu sehen -- die nicht ermangelte, ihn auf
alle Weise zu dieser Arbeit anzuschmeicheln. "Nein, Madam, nicht um hundert, nicht um fünf-
"hundert Guineen halte ichs zwo Stunden bey einem so lasterhaften Gesichte aus," und lief weg.

Zwölftes Fragment.
Eine Fabel.

Mit unbeschreiblichem Genie mahlte ein Mahler einen herrlichen Kopf -- die Unschuld. Mit
unbeschreiblicher Freude sah ihm unter der Arbeit sein Sohn zu. Ganz erfaßte er die Seele des
Gemähldes. Als es aufs fleißigste vollendet war, schenkte es ihm der Vater. Mit königlicher
Lust setzte es der Sohn in sein großes Cabinet -- und wer es sah, rief aus: "Es ist die Krone
"der Sammlung."

Ein fremder durchreisender Mahler hatte viel von dem Mahler, seiner Gallerie und diesem
Gemählde gehört -- und war sehr begierig, selbst den Augenschein davon zu nehmen. Er suchte
also mit seinen drey Söhnen, die alle Mahler waren, wo möglich in Abwesenheit des Sohnes, auf
diese Gallerie zu kommen, und es gelang ihm. Denn er kam gekleidet wie ein Prinz, mit der
Miene des Kenners und der verbindlichsten Höflichkeit -- Kaum trat er in den Saal, so eilte er
mit seinen Begleitern auf das Himmelsgesicht zu -- und todtblaß vor Neide bebte er vor diesem
Meisterstück aller Meisterstücke zurück. Blitzschlag war jeder Zug des Genies auf sein Herz --
doch verbarg er seines Neides tobende Wut unter sanft lächelnden Falten -- "Jst das nicht ein
"schönes Stück" -- fragte ihn ein Aufwärter -- "Ein unnachahmliches Meisterstück," erwiederte
der Mahler -- "nur, wenn ich frey reden darf, Schade -- daß es hier etwas hart und steif
"gezeichnet ist -- und dem wäre mit so wenigem abzuhelfen -- Nur ein wenig adoucirt hier, mey-
"nest du nicht, (wandte er sich zu einem seiner Söhne,) meynest du nicht, Sohn! -- mit wenigen

Zügen
N 3

Einige phyſiognomiſche Anekdoten.
Man ſprach von 3, 4, 500 Guineen — „Jch will erſt das Geſicht ſehen, ſagte er, ehe ich ja ſage.“
Dem Mahler ward Gelegenheit verſchafft, die Dame zu ſehen — die nicht ermangelte, ihn auf
alle Weiſe zu dieſer Arbeit anzuſchmeicheln. „Nein, Madam, nicht um hundert, nicht um fuͤnf-
„hundert Guineen halte ichs zwo Stunden bey einem ſo laſterhaften Geſichte aus,“ und lief weg.

Zwoͤlftes Fragment.
Eine Fabel.

Mit unbeſchreiblichem Genie mahlte ein Mahler einen herrlichen Kopf — die Unſchuld. Mit
unbeſchreiblicher Freude ſah ihm unter der Arbeit ſein Sohn zu. Ganz erfaßte er die Seele des
Gemaͤhldes. Als es aufs fleißigſte vollendet war, ſchenkte es ihm der Vater. Mit koͤniglicher
Luſt ſetzte es der Sohn in ſein großes Cabinet — und wer es ſah, rief aus: „Es iſt die Krone
„der Sammlung.“

Ein fremder durchreiſender Mahler hatte viel von dem Mahler, ſeiner Gallerie und dieſem
Gemaͤhlde gehoͤrt — und war ſehr begierig, ſelbſt den Augenſchein davon zu nehmen. Er ſuchte
alſo mit ſeinen drey Soͤhnen, die alle Mahler waren, wo moͤglich in Abweſenheit des Sohnes, auf
dieſe Gallerie zu kommen, und es gelang ihm. Denn er kam gekleidet wie ein Prinz, mit der
Miene des Kenners und der verbindlichſten Hoͤflichkeit — Kaum trat er in den Saal, ſo eilte er
mit ſeinen Begleitern auf das Himmelsgeſicht zu — und todtblaß vor Neide bebte er vor dieſem
Meiſterſtuͤck aller Meiſterſtuͤcke zuruͤck. Blitzſchlag war jeder Zug des Genies auf ſein Herz —
doch verbarg er ſeines Neides tobende Wut unter ſanft laͤchelnden Falten — „Jſt das nicht ein
„ſchoͤnes Stuͤck“ — fragte ihn ein Aufwaͤrter — „Ein unnachahmliches Meiſterſtuͤck,“ erwiederte
der Mahler — „nur, wenn ich frey reden darf, Schade — daß es hier etwas hart und ſteif
„gezeichnet iſt — und dem waͤre mit ſo wenigem abzuhelfen — Nur ein wenig adoucirt hier, mey-
„neſt du nicht, (wandte er ſich zu einem ſeiner Soͤhne,) meyneſt du nicht, Sohn! — mit wenigen

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[101/0129] Einige phyſiognomiſche Anekdoten. Man ſprach von 3, 4, 500 Guineen — „Jch will erſt das Geſicht ſehen, ſagte er, ehe ich ja ſage.“ Dem Mahler ward Gelegenheit verſchafft, die Dame zu ſehen — die nicht ermangelte, ihn auf alle Weiſe zu dieſer Arbeit anzuſchmeicheln. „Nein, Madam, nicht um hundert, nicht um fuͤnf- „hundert Guineen halte ichs zwo Stunden bey einem ſo laſterhaften Geſichte aus,“ und lief weg. Zwoͤlftes Fragment. Eine Fabel. Mit unbeſchreiblichem Genie mahlte ein Mahler einen herrlichen Kopf — die Unſchuld. Mit unbeſchreiblicher Freude ſah ihm unter der Arbeit ſein Sohn zu. Ganz erfaßte er die Seele des Gemaͤhldes. Als es aufs fleißigſte vollendet war, ſchenkte es ihm der Vater. Mit koͤniglicher Luſt ſetzte es der Sohn in ſein großes Cabinet — und wer es ſah, rief aus: „Es iſt die Krone „der Sammlung.“ Ein fremder durchreiſender Mahler hatte viel von dem Mahler, ſeiner Gallerie und dieſem Gemaͤhlde gehoͤrt — und war ſehr begierig, ſelbſt den Augenſchein davon zu nehmen. Er ſuchte alſo mit ſeinen drey Soͤhnen, die alle Mahler waren, wo moͤglich in Abweſenheit des Sohnes, auf dieſe Gallerie zu kommen, und es gelang ihm. Denn er kam gekleidet wie ein Prinz, mit der Miene des Kenners und der verbindlichſten Hoͤflichkeit — Kaum trat er in den Saal, ſo eilte er mit ſeinen Begleitern auf das Himmelsgeſicht zu — und todtblaß vor Neide bebte er vor dieſem Meiſterſtuͤck aller Meiſterſtuͤcke zuruͤck. Blitzſchlag war jeder Zug des Genies auf ſein Herz — doch verbarg er ſeines Neides tobende Wut unter ſanft laͤchelnden Falten — „Jſt das nicht ein „ſchoͤnes Stuͤck“ — fragte ihn ein Aufwaͤrter — „Ein unnachahmliches Meiſterſtuͤck,“ erwiederte der Mahler — „nur, wenn ich frey reden darf, Schade — daß es hier etwas hart und ſteif „gezeichnet iſt — und dem waͤre mit ſo wenigem abzuhelfen — Nur ein wenig adoucirt hier, mey- „neſt du nicht, (wandte er ſich zu einem ſeiner Soͤhne,) meyneſt du nicht, Sohn! — mit wenigen Zuͤgen N 3

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778, S. 101. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/129>, abgerufen am 24.04.2024.