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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778.

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I. Abschnitt. XII. Fragment. Eine Fabel.
"Zügen ließ es sich unendlich verschönern? -- O ja, sagte der Sohn, es ist um einen Messerrü-
"cken zu hager -- O hätte ich Pinsel und Farbe hier -- nur ein kleiner Zusatz von Fleisch würde
"ihm unendlich wohl thun -- Sonst muß man gestehen -- es ist ein Meisterstück" -- "Und
"wenn ich meine Meynung sagen darf, Papa, (sagte sein Bruder, der neben ihm stand,) -- in
"den Augen ist doch nicht Feuer, nicht Erhabenheit genug -- Sie haben mich das Erhabene stu-
"dieren gelehrt -- es thut mir wehe, es hier zu vermissen -- es wäre um weniges zu thun -- so
"wäre auch da geholfen. O es brennt mir unter den Füßen, daß ich Pinsel und Palette nicht
"hier habe -- das herrliche Stück auch von dieser Unvollkommenheit zu reinigen. Sonst muß ich
"gestehen: Jch habe seines gleichen nicht gesehen -- nur, nur -- noch ein wenig mehr Erhaben-
"heit -- und das Stück wäre nicht zu bezahlen." Der Vater klopfte beyden auf die Achseln, und
war entzückt über die Urtheile seiner Söhne -- wandte sich an den dritten: und was sagst du dazu?
"Jch habe nichts weiter zu sagen -- es ist ein himmlisches Meisterstück -- aber das wundert mich,
"daß es keinen Firniß hat -- der erst gäbe ihm Harmonie und Anmuth, und es verdients doch --
"denn seines gleichen ist wohl in allen Gallerien der Welt nicht." -- "O vortrefflich," sagte der
alte Schurke leise zu ihnen, indem der Aufwärter in einer andern Ecke des Zimmers stand, "ihr
"sprecht mir aus dem Herzen. Laßt uns nur sehen, daß wir hier Zutritt haben -- wir geben dem
"Aufwärter dort gute Worte, und wenn's mehr bedarf -- und morgen kommen wir wieder, und
"du schöner Junge -- nimmst Pinsel und Farbe mit, und machest's ein wenig fleischiger, und du
"Stolznäschen dort -- bringst mit ein Paar Zügen deine Erhabenheit an -- und du kleiner
"Schelm beschmierst es mit deinem Copalfirniß -- -- Jhr versteht mich! das Ding muß unser,
"oder der Besitzer und Mahler müssen krank drüber werden."

Sie verabschiedeten sich also beym Aufwärter, und baten sich die Erlaubniß aus, morgen wie-
derkommen zu dürfen, das unvergleichliche Stück, an dem man sich nicht satt sehen könne -- wie-
der zu sehen. "Meine Herren! so oft Sie wollen. Nur daß Sie an dem Gemählde nichts verder-
"ben." -- "O dafür sey Jhm nicht bange, sagten die Schurken -- und der alte Schalk gieng
morgen mit seinen Söhnen wieder auf die Gallerie, suchte den Aufwärter auf die Seite, oder in ein
Nebenzimmer wegzulenken -- und geschwind ward Pinsel und Farbe hervorgelangt, der Kopf

etwas

I. Abſchnitt. XII. Fragment. Eine Fabel.
„Zuͤgen ließ es ſich unendlich verſchoͤnern? — O ja, ſagte der Sohn, es iſt um einen Meſſerruͤ-
„cken zu hager — O haͤtte ich Pinſel und Farbe hier — nur ein kleiner Zuſatz von Fleiſch wuͤrde
„ihm unendlich wohl thun — Sonſt muß man geſtehen — es iſt ein Meiſterſtuͤck“ — „Und
„wenn ich meine Meynung ſagen darf, Papa, (ſagte ſein Bruder, der neben ihm ſtand,) — in
„den Augen iſt doch nicht Feuer, nicht Erhabenheit genug — Sie haben mich das Erhabene ſtu-
„dieren gelehrt — es thut mir wehe, es hier zu vermiſſen — es waͤre um weniges zu thun — ſo
„waͤre auch da geholfen. O es brennt mir unter den Fuͤßen, daß ich Pinſel und Palette nicht
„hier habe — das herrliche Stuͤck auch von dieſer Unvollkommenheit zu reinigen. Sonſt muß ich
„geſtehen: Jch habe ſeines gleichen nicht geſehen — nur, nur — noch ein wenig mehr Erhaben-
„heit — und das Stuͤck waͤre nicht zu bezahlen.“ Der Vater klopfte beyden auf die Achſeln, und
war entzuͤckt uͤber die Urtheile ſeiner Soͤhne — wandte ſich an den dritten: und was ſagſt du dazu?
„Jch habe nichts weiter zu ſagen — es iſt ein himmliſches Meiſterſtuͤck — aber das wundert mich,
„daß es keinen Firniß hat — der erſt gaͤbe ihm Harmonie und Anmuth, und es verdients doch —
„denn ſeines gleichen iſt wohl in allen Gallerien der Welt nicht.“ — „O vortrefflich,“ ſagte der
alte Schurke leiſe zu ihnen, indem der Aufwaͤrter in einer andern Ecke des Zimmers ſtand, „ihr
„ſprecht mir aus dem Herzen. Laßt uns nur ſehen, daß wir hier Zutritt haben — wir geben dem
„Aufwaͤrter dort gute Worte, und wenn’s mehr bedarf — und morgen kommen wir wieder, und
„du ſchoͤner Junge — nimmſt Pinſel und Farbe mit, und macheſt’s ein wenig fleiſchiger, und du
„Stolznaͤschen dort — bringſt mit ein Paar Zuͤgen deine Erhabenheit an — und du kleiner
„Schelm beſchmierſt es mit deinem Copalfirniß — — Jhr verſteht mich! das Ding muß unſer,
„oder der Beſitzer und Mahler muͤſſen krank druͤber werden.“

Sie verabſchiedeten ſich alſo beym Aufwaͤrter, und baten ſich die Erlaubniß aus, morgen wie-
derkommen zu duͤrfen, das unvergleichliche Stuͤck, an dem man ſich nicht ſatt ſehen koͤnne — wie-
der zu ſehen. „Meine Herren! ſo oft Sie wollen. Nur daß Sie an dem Gemaͤhlde nichts verder-
„ben.“ — „O dafuͤr ſey Jhm nicht bange, ſagten die Schurken — und der alte Schalk gieng
morgen mit ſeinen Soͤhnen wieder auf die Gallerie, ſuchte den Aufwaͤrter auf die Seite, oder in ein
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[102/0130] I. Abſchnitt. XII. Fragment. Eine Fabel. „Zuͤgen ließ es ſich unendlich verſchoͤnern? — O ja, ſagte der Sohn, es iſt um einen Meſſerruͤ- „cken zu hager — O haͤtte ich Pinſel und Farbe hier — nur ein kleiner Zuſatz von Fleiſch wuͤrde „ihm unendlich wohl thun — Sonſt muß man geſtehen — es iſt ein Meiſterſtuͤck“ — „Und „wenn ich meine Meynung ſagen darf, Papa, (ſagte ſein Bruder, der neben ihm ſtand,) — in „den Augen iſt doch nicht Feuer, nicht Erhabenheit genug — Sie haben mich das Erhabene ſtu- „dieren gelehrt — es thut mir wehe, es hier zu vermiſſen — es waͤre um weniges zu thun — ſo „waͤre auch da geholfen. O es brennt mir unter den Fuͤßen, daß ich Pinſel und Palette nicht „hier habe — das herrliche Stuͤck auch von dieſer Unvollkommenheit zu reinigen. Sonſt muß ich „geſtehen: Jch habe ſeines gleichen nicht geſehen — nur, nur — noch ein wenig mehr Erhaben- „heit — und das Stuͤck waͤre nicht zu bezahlen.“ Der Vater klopfte beyden auf die Achſeln, und war entzuͤckt uͤber die Urtheile ſeiner Soͤhne — wandte ſich an den dritten: und was ſagſt du dazu? „Jch habe nichts weiter zu ſagen — es iſt ein himmliſches Meiſterſtuͤck — aber das wundert mich, „daß es keinen Firniß hat — der erſt gaͤbe ihm Harmonie und Anmuth, und es verdients doch — „denn ſeines gleichen iſt wohl in allen Gallerien der Welt nicht.“ — „O vortrefflich,“ ſagte der alte Schurke leiſe zu ihnen, indem der Aufwaͤrter in einer andern Ecke des Zimmers ſtand, „ihr „ſprecht mir aus dem Herzen. Laßt uns nur ſehen, daß wir hier Zutritt haben — wir geben dem „Aufwaͤrter dort gute Worte, und wenn’s mehr bedarf — und morgen kommen wir wieder, und „du ſchoͤner Junge — nimmſt Pinſel und Farbe mit, und macheſt’s ein wenig fleiſchiger, und du „Stolznaͤschen dort — bringſt mit ein Paar Zuͤgen deine Erhabenheit an — und du kleiner „Schelm beſchmierſt es mit deinem Copalfirniß — — Jhr verſteht mich! das Ding muß unſer, „oder der Beſitzer und Mahler muͤſſen krank druͤber werden.“ Sie verabſchiedeten ſich alſo beym Aufwaͤrter, und baten ſich die Erlaubniß aus, morgen wie- derkommen zu duͤrfen, das unvergleichliche Stuͤck, an dem man ſich nicht ſatt ſehen koͤnne — wie- der zu ſehen. „Meine Herren! ſo oft Sie wollen. Nur daß Sie an dem Gemaͤhlde nichts verder- „ben.“ — „O dafuͤr ſey Jhm nicht bange, ſagten die Schurken — und der alte Schalk gieng morgen mit ſeinen Soͤhnen wieder auf die Gallerie, ſuchte den Aufwaͤrter auf die Seite, oder in ein Nebenzimmer wegzulenken — und geſchwind ward Pinſel und Farbe hervorgelangt, der Kopf etwas

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778, S. 102. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/130>, abgerufen am 25.04.2024.