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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778.

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Physiognomischer Sinn, Genie, Ahndung.
Proportion, diese Einfachheit, diese Sanftheit des Ganzen, diese innige Truglosigkeit, wer wird
sie erblicken und gefühllos vor ihr vorübergehen? --

[Abbildung] Des IV. Ban-
des VII. Tafel.
Cenci.

Und nun noch ein auffallendes allanziehendes Gesichtgen! von Guido vermuth-
lich unlange vor ihrem Tode gezeichnet -- von einem guten Mahler kopirt, von Stur-
zens
Meisterhand nachkrayonirt, und von Lipsen radirt -- und nicht erreicht -- und
dennoch wie sprechend für alle Menschenaugen! Wo ist der Barbar, der ihm Liebe nicht anseh, und
ihm Liebe versage? Das Gesichtgen darf uns nichts geben -- aber wir wünschten, ihm geben zu
können! Wir hören die Stimme der sanften Liebe aus diesen Lippen! wir glauben die Güte und
Unschuld zusammengeflossen zu sehen -- O! wem so ein Gesicht nicht wohl thut! und doch -- er-
zitterst du nicht, Menschenherz? erröthest du nicht, Physiognomik? und doch ist's das Gesicht ei-
ner Vatermörderinn, die zu Rom enthauptet wurde. -- Nein! erzittre nicht, Menschenherz, und
erröthe nicht, Physiognomik! Schaam und Aberglaube, Schwärmerey und Abscheu vor Unna-
tur -- zeugen unnatürliche Thaten -- die wie Gift den gesundesten Körper -- die gesundeste See-
le -- verwüsten. Willst du des Physiognomisten lachen, der einen sonst gesunden Körper, der vom
Gifte zerstöret ist, gesund nennt? -- Sein Lachen, wenn er ein Gesicht erhaben nennt, das vom

Gifte
Q 3

Phyſiognomiſcher Sinn, Genie, Ahndung.
Proportion, dieſe Einfachheit, dieſe Sanftheit des Ganzen, dieſe innige Trugloſigkeit, wer wird
ſie erblicken und gefuͤhllos vor ihr voruͤbergehen? —

[Abbildung] Des IV. Ban-
des VII. Tafel.
Cenci.

Und nun noch ein auffallendes allanziehendes Geſichtgen! von Guido vermuth-
lich unlange vor ihrem Tode gezeichnet — von einem guten Mahler kopirt, von Stur-
zens
Meiſterhand nachkrayonirt, und von Lipſen radirt — und nicht erreicht — und
dennoch wie ſprechend fuͤr alle Menſchenaugen! Wo iſt der Barbar, der ihm Liebe nicht anſeh, und
ihm Liebe verſage? Das Geſichtgen darf uns nichts geben — aber wir wuͤnſchten, ihm geben zu
koͤnnen! Wir hoͤren die Stimme der ſanften Liebe aus dieſen Lippen! wir glauben die Guͤte und
Unſchuld zuſammengefloſſen zu ſehen — O! wem ſo ein Geſicht nicht wohl thut! und doch — er-
zitterſt du nicht, Menſchenherz? erroͤtheſt du nicht, Phyſiognomik? und doch iſt’s das Geſicht ei-
ner Vatermoͤrderinn, die zu Rom enthauptet wurde. — Nein! erzittre nicht, Menſchenherz, und
erroͤthe nicht, Phyſiognomik! Schaam und Aberglaube, Schwaͤrmerey und Abſcheu vor Unna-
tur — zeugen unnatuͤrliche Thaten — die wie Gift den geſundeſten Koͤrper — die geſundeſte See-
le — verwuͤſten. Willſt du des Phyſiognomiſten lachen, der einen ſonſt geſunden Koͤrper, der vom
Gifte zerſtoͤret iſt, geſund nennt? — Sein Lachen, wenn er ein Geſicht erhaben nennt, das vom

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Q 3
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[125/0155] Phyſiognomiſcher Sinn, Genie, Ahndung. Proportion, dieſe Einfachheit, dieſe Sanftheit des Ganzen, dieſe innige Trugloſigkeit, wer wird ſie erblicken und gefuͤhllos vor ihr voruͤbergehen? — [Abbildung] Und nun noch ein auffallendes allanziehendes Geſichtgen! von Guido vermuth- lich unlange vor ihrem Tode gezeichnet — von einem guten Mahler kopirt, von Stur- zens Meiſterhand nachkrayonirt, und von Lipſen radirt — und nicht erreicht — und dennoch wie ſprechend fuͤr alle Menſchenaugen! Wo iſt der Barbar, der ihm Liebe nicht anſeh, und ihm Liebe verſage? Das Geſichtgen darf uns nichts geben — aber wir wuͤnſchten, ihm geben zu koͤnnen! Wir hoͤren die Stimme der ſanften Liebe aus dieſen Lippen! wir glauben die Guͤte und Unſchuld zuſammengefloſſen zu ſehen — O! wem ſo ein Geſicht nicht wohl thut! und doch — er- zitterſt du nicht, Menſchenherz? erroͤtheſt du nicht, Phyſiognomik? und doch iſt’s das Geſicht ei- ner Vatermoͤrderinn, die zu Rom enthauptet wurde. — Nein! erzittre nicht, Menſchenherz, und erroͤthe nicht, Phyſiognomik! Schaam und Aberglaube, Schwaͤrmerey und Abſcheu vor Unna- tur — zeugen unnatuͤrliche Thaten — die wie Gift den geſundeſten Koͤrper — die geſundeſte See- le — verwuͤſten. Willſt du des Phyſiognomiſten lachen, der einen ſonſt geſunden Koͤrper, der vom Gifte zerſtoͤret iſt, geſund nennt? — Sein Lachen, wenn er ein Geſicht erhaben nennt, das vom Gifte Q 3

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778, S. 125. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/155>, abgerufen am 25.04.2024.