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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778.

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Stellen aus Bakon.
nicht alles, was zur Schönheit gehört. Dürer hatte sehr recht, den Körper zu messen. Denn
was Gott mißt, darf er nachmessen lassen. Ohne Messung wird kein Zeichner fest werden; keiner
wahr; -- keiner oraculorum divinorum interpres. Wenn aber Dürer damit Schönheit er-
zwingen wollte; sie blos durch Messen herausbringen wollte -- dann verdiente er den Namen Nu-
gator
-- -- sonst wahrlich nicht; einem Philosophen, wie Bakon war, hätten dergleichen un-
bestimmte Entscheidungen nicht entwischen sollen. Was ist Philosophie? -- Bestimmte und be-
stimmbare Erkenntniß dessen, was ist -- Bezeichnung der Verhältnisse der Dinge. Wer soll nun
Philosoph seyn, wenn es der Mahler, der Zeichner nicht seyn soll, wenn der den wichtigsten Gegenstand
der Beobachtung und Erforschung, den Menschen, nicht nach der Wahrheit erforschen -- das ist,
seines Baues Verhältnisse bestimmen lernen will. Non quin existimem, fährt unser lieber Bakon fort,
elegantiorem faciem depingi a pictore posse, quam unquam in vivis fuit: sed hoc ei contingere oportet ex
felicitate quadam et casu (veluti musicis sui cantus) non autem
(allein und ausschließender Weise)
ex regulis artis. Videre est facies nonnullas quarum partes singulae examini si subjiciantur, vix unam re-
peries, quam separatim probes quae tamen in consortio satis placebit
-- und gewiß noch ungleich besser
gefallen würde, wenn sie auch einzelnen schön wären. Bakons Fehlurtheil hierinn rührt offenbar,
wie alle Fehlurtheile in der Welt, daher, daß er zwey sehr nahe an einander angränzende Dinge mit
einander verwechselt -- Schönheit und Grazie. Diese erfordert nicht schlechterdings die höch-
ste Regelmäßigkeit der Zeichnung. Jene aber erfordert sie schlechterdings. -- Quod si verum sit,
(das ist aber nicht) pulchritudinem praecipuam sitam esse in motu decoro; mirum sane non est, si prove-
ctiores aetate aliquando videantur minoribus amabiliores -- amabiliores
wohl; aber nicht pulchriores ...



Viertes

Stellen aus Bakon.
nicht alles, was zur Schoͤnheit gehoͤrt. Duͤrer hatte ſehr recht, den Koͤrper zu meſſen. Denn
was Gott mißt, darf er nachmeſſen laſſen. Ohne Meſſung wird kein Zeichner feſt werden; keiner
wahr; — keiner oraculorum divinorum interpres. Wenn aber Duͤrer damit Schoͤnheit er-
zwingen wollte; ſie blos durch Meſſen herausbringen wollte — dann verdiente er den Namen Nu-
gator
— — ſonſt wahrlich nicht; einem Philoſophen, wie Bakon war, haͤtten dergleichen un-
beſtimmte Entſcheidungen nicht entwiſchen ſollen. Was iſt Philoſophie? — Beſtimmte und be-
ſtimmbare Erkenntniß deſſen, was iſt — Bezeichnung der Verhaͤltniſſe der Dinge. Wer ſoll nun
Philoſoph ſeyn, wenn es der Mahler, der Zeichner nicht ſeyn ſoll, wenn der den wichtigſten Gegenſtand
der Beobachtung und Erforſchung, den Menſchen, nicht nach der Wahrheit erforſchen — das iſt,
ſeines Baues Verhaͤltniſſe beſtimmen lernen will. Non quin exiſtimem, faͤhrt unſer lieber Bakon fort,
elegantiorem faciem depingi a pictore poſſe, quam unquam in vivis fuit: ſed hoc ei contingere oportet ex
felicitate quadam et caſu (veluti muſicis ſui cantus) non autem
(allein und ausſchließender Weiſe)
ex regulis artis. Videre eſt facies nonnullas quarum partes ſingulae examini ſi ſubjiciantur, vix unam re-
peries, quam ſeparatim probes quae tamen in conſortio ſatis placebit
— und gewiß noch ungleich beſſer
gefallen wuͤrde, wenn ſie auch einzelnen ſchoͤn waͤren. Bakons Fehlurtheil hierinn ruͤhrt offenbar,
wie alle Fehlurtheile in der Welt, daher, daß er zwey ſehr nahe an einander angraͤnzende Dinge mit
einander verwechſelt — Schoͤnheit und Grazie. Dieſe erfordert nicht ſchlechterdings die hoͤch-
ſte Regelmaͤßigkeit der Zeichnung. Jene aber erfordert ſie ſchlechterdings. — Quod ſi verum ſit,
(das iſt aber nicht) pulchritudinem praecipuam ſitam eſſe in motu decoro; mirum ſane non eſt, ſi prove-
ctiores aetate aliquando videantur minoribus amabiliores — amabiliores
wohl; aber nicht pulchriores ...



Viertes
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[183/0213] Stellen aus Bakon. nicht alles, was zur Schoͤnheit gehoͤrt. Duͤrer hatte ſehr recht, den Koͤrper zu meſſen. Denn was Gott mißt, darf er nachmeſſen laſſen. Ohne Meſſung wird kein Zeichner feſt werden; keiner wahr; — keiner oraculorum divinorum interpres. Wenn aber Duͤrer damit Schoͤnheit er- zwingen wollte; ſie blos durch Meſſen herausbringen wollte — dann verdiente er den Namen Nu- gator — — ſonſt wahrlich nicht; einem Philoſophen, wie Bakon war, haͤtten dergleichen un- beſtimmte Entſcheidungen nicht entwiſchen ſollen. Was iſt Philoſophie? — Beſtimmte und be- ſtimmbare Erkenntniß deſſen, was iſt — Bezeichnung der Verhaͤltniſſe der Dinge. Wer ſoll nun Philoſoph ſeyn, wenn es der Mahler, der Zeichner nicht ſeyn ſoll, wenn der den wichtigſten Gegenſtand der Beobachtung und Erforſchung, den Menſchen, nicht nach der Wahrheit erforſchen — das iſt, ſeines Baues Verhaͤltniſſe beſtimmen lernen will. Non quin exiſtimem, faͤhrt unſer lieber Bakon fort, elegantiorem faciem depingi a pictore poſſe, quam unquam in vivis fuit: ſed hoc ei contingere oportet ex felicitate quadam et caſu (veluti muſicis ſui cantus) non autem (allein und ausſchließender Weiſe) ex regulis artis. Videre eſt facies nonnullas quarum partes ſingulae examini ſi ſubjiciantur, vix unam re- peries, quam ſeparatim probes quae tamen in conſortio ſatis placebit — und gewiß noch ungleich beſſer gefallen wuͤrde, wenn ſie auch einzelnen ſchoͤn waͤren. Bakons Fehlurtheil hierinn ruͤhrt offenbar, wie alle Fehlurtheile in der Welt, daher, daß er zwey ſehr nahe an einander angraͤnzende Dinge mit einander verwechſelt — Schoͤnheit und Grazie. Dieſe erfordert nicht ſchlechterdings die hoͤch- ſte Regelmaͤßigkeit der Zeichnung. Jene aber erfordert ſie ſchlechterdings. — Quod ſi verum ſit, (das iſt aber nicht) pulchritudinem praecipuam ſitam eſſe in motu decoro; mirum ſane non eſt, ſi prove- ctiores aetate aliquando videantur minoribus amabiliores — amabiliores wohl; aber nicht pulchriores ... Viertes

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778, S. 183. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/213>, abgerufen am 28.03.2024.