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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778.

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V. Abschnitt. III. Fragment.
"Flamänder, dessen Charakter als Jovialität zwischen dem Jtaliänischen und Französischen
"inne steht, und daher Data seiner Kunstgeschichte zu pragmatisiren wären.

"Hohe Stirn, halbgeöffnete Augen, fleischigte Nase, hängende Backenmuskeln, weit ge-
"öffneter Mund, flache Lippen, breites Kinn, und große fleischigte Ohren würden mir das Bild
"des Holländers verkündigen.



"Der Deutsche schämt sich, nicht alles zu wissen, und scheut nichts so sehr, als für einen
"Narren angesehen zu werden. Aus Ehrlichkeit scheint er oft ein Pinsel. Auf nichts ist er so stolz
"als auf Verstand und Zuverläßigkeit der Sitten. Er ist unstreitig der beste Soldat nach neuerm
"Zuschnitt, und gewiß gelehrt für ganz Europa. Erfinder ist er, nach Aussage aller Calender, und
"zwar oft mit so wenig Gepränge, daß ihm Ausländer seinen Ruhm Jahrhunderte lang geraubt ha-
"ben, ohne daß ers weiß. Gern Dependent und Anhänger der Großen seit Tazitus Zeiten, thut
"er für sie, was andre für Freyheit und Eigenthum thun. Sein Gesicht spricht nicht von weitem,
"wie ein Freskogemählde durch Effekt; sondern es will erforscht und studiert seyn. Seine Bonho-
"mie und Gutherzigkeit ist oft unter Grämlichkeit begraben, und es gehört immer ein Dritter dazu,
"seine Mienen aus dem Schleyer der Vielfaltigkeit zu enthüllen. Er ist schwer zu bewegen, und
"ohne ein Glas alten Weins spricht er nicht gerne von sich selbst. Von seinem Werthe ahndet er
"meistens nichts, und verwundert sich herzlich, wenn die Leute ihn für was halten. Treue, Fleiß
"und Verschwiegenheit sind die drey Seiten, die das Heiligthum seines Charakters zusammenhalten.
"Witz ist nicht seine Sache, und er nährt sich dafür mit Empfindung. Das Moralischgute ist
"die Farbe, womit er alles in den Künsten tingirt haben will. Daher die große Jndulgenz gegen
"alle Aftergeburten, die diese Maske führen. Sein epischer, lyrischer Geist wandelt einsamen Pfa-
"des; -- daher die großen oft gigantesken Gesinnungen; aber selten der helle Blick des Traumes
"und der lebhaften Erscheinung. Jm Gebrauche der Güter dieses Lebens mäßig, hat er wenig
"Hang zur Sinnlichkeit und Ausschweifung, ist aber auch dafür steif, und weniger gesellschaftlich,
"als seine Nachbarn.

Der

V. Abſchnitt. III. Fragment.
Flamaͤnder, deſſen Charakter als Jovialitaͤt zwiſchen dem Jtaliaͤniſchen und Franzoͤſiſchen
„inne ſteht, und daher Data ſeiner Kunſtgeſchichte zu pragmatiſiren waͤren.

„Hohe Stirn, halbgeoͤffnete Augen, fleiſchigte Naſe, haͤngende Backenmuskeln, weit ge-
„oͤffneter Mund, flache Lippen, breites Kinn, und große fleiſchigte Ohren wuͤrden mir das Bild
„des Hollaͤnders verkuͤndigen.



„Der Deutſche ſchaͤmt ſich, nicht alles zu wiſſen, und ſcheut nichts ſo ſehr, als fuͤr einen
„Narren angeſehen zu werden. Aus Ehrlichkeit ſcheint er oft ein Pinſel. Auf nichts iſt er ſo ſtolz
„als auf Verſtand und Zuverlaͤßigkeit der Sitten. Er iſt unſtreitig der beſte Soldat nach neuerm
„Zuſchnitt, und gewiß gelehrt fuͤr ganz Europa. Erfinder iſt er, nach Ausſage aller Calender, und
„zwar oft mit ſo wenig Gepraͤnge, daß ihm Auslaͤnder ſeinen Ruhm Jahrhunderte lang geraubt ha-
„ben, ohne daß ers weiß. Gern Dependent und Anhaͤnger der Großen ſeit Tazitus Zeiten, thut
„er fuͤr ſie, was andre fuͤr Freyheit und Eigenthum thun. Sein Geſicht ſpricht nicht von weitem,
„wie ein Freskogemaͤhlde durch Effekt; ſondern es will erforſcht und ſtudiert ſeyn. Seine Bonho-
„mie und Gutherzigkeit iſt oft unter Graͤmlichkeit begraben, und es gehoͤrt immer ein Dritter dazu,
„ſeine Mienen aus dem Schleyer der Vielfaltigkeit zu enthuͤllen. Er iſt ſchwer zu bewegen, und
„ohne ein Glas alten Weins ſpricht er nicht gerne von ſich ſelbſt. Von ſeinem Werthe ahndet er
„meiſtens nichts, und verwundert ſich herzlich, wenn die Leute ihn fuͤr was halten. Treue, Fleiß
„und Verſchwiegenheit ſind die drey Seiten, die das Heiligthum ſeines Charakters zuſammenhalten.
„Witz iſt nicht ſeine Sache, und er naͤhrt ſich dafuͤr mit Empfindung. Das Moraliſchgute iſt
„die Farbe, womit er alles in den Kuͤnſten tingirt haben will. Daher die große Jndulgenz gegen
„alle Aftergeburten, die dieſe Maske fuͤhren. Sein epiſcher, lyriſcher Geiſt wandelt einſamen Pfa-
„des; — daher die großen oft gigantesken Geſinnungen; aber ſelten der helle Blick des Traumes
„und der lebhaften Erſcheinung. Jm Gebrauche der Guͤter dieſes Lebens maͤßig, hat er wenig
„Hang zur Sinnlichkeit und Ausſchweifung, iſt aber auch dafuͤr ſteif, und weniger geſellſchaftlich,
„als ſeine Nachbarn.

Der
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[288/0328] V. Abſchnitt. III. Fragment. „Flamaͤnder, deſſen Charakter als Jovialitaͤt zwiſchen dem Jtaliaͤniſchen und Franzoͤſiſchen „inne ſteht, und daher Data ſeiner Kunſtgeſchichte zu pragmatiſiren waͤren. „Hohe Stirn, halbgeoͤffnete Augen, fleiſchigte Naſe, haͤngende Backenmuskeln, weit ge- „oͤffneter Mund, flache Lippen, breites Kinn, und große fleiſchigte Ohren wuͤrden mir das Bild „des Hollaͤnders verkuͤndigen. „Der Deutſche ſchaͤmt ſich, nicht alles zu wiſſen, und ſcheut nichts ſo ſehr, als fuͤr einen „Narren angeſehen zu werden. Aus Ehrlichkeit ſcheint er oft ein Pinſel. Auf nichts iſt er ſo ſtolz „als auf Verſtand und Zuverlaͤßigkeit der Sitten. Er iſt unſtreitig der beſte Soldat nach neuerm „Zuſchnitt, und gewiß gelehrt fuͤr ganz Europa. Erfinder iſt er, nach Ausſage aller Calender, und „zwar oft mit ſo wenig Gepraͤnge, daß ihm Auslaͤnder ſeinen Ruhm Jahrhunderte lang geraubt ha- „ben, ohne daß ers weiß. Gern Dependent und Anhaͤnger der Großen ſeit Tazitus Zeiten, thut „er fuͤr ſie, was andre fuͤr Freyheit und Eigenthum thun. Sein Geſicht ſpricht nicht von weitem, „wie ein Freskogemaͤhlde durch Effekt; ſondern es will erforſcht und ſtudiert ſeyn. Seine Bonho- „mie und Gutherzigkeit iſt oft unter Graͤmlichkeit begraben, und es gehoͤrt immer ein Dritter dazu, „ſeine Mienen aus dem Schleyer der Vielfaltigkeit zu enthuͤllen. Er iſt ſchwer zu bewegen, und „ohne ein Glas alten Weins ſpricht er nicht gerne von ſich ſelbſt. Von ſeinem Werthe ahndet er „meiſtens nichts, und verwundert ſich herzlich, wenn die Leute ihn fuͤr was halten. Treue, Fleiß „und Verſchwiegenheit ſind die drey Seiten, die das Heiligthum ſeines Charakters zuſammenhalten. „Witz iſt nicht ſeine Sache, und er naͤhrt ſich dafuͤr mit Empfindung. Das Moraliſchgute iſt „die Farbe, womit er alles in den Kuͤnſten tingirt haben will. Daher die große Jndulgenz gegen „alle Aftergeburten, die dieſe Maske fuͤhren. Sein epiſcher, lyriſcher Geiſt wandelt einſamen Pfa- „des; — daher die großen oft gigantesken Geſinnungen; aber ſelten der helle Blick des Traumes „und der lebhaften Erſcheinung. Jm Gebrauche der Guͤter dieſes Lebens maͤßig, hat er wenig „Hang zur Sinnlichkeit und Ausſchweifung, iſt aber auch dafuͤr ſteif, und weniger geſellſchaftlich, „als ſeine Nachbarn. Der

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778, S. 288. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/328>, abgerufen am 28.03.2024.