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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778.

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V. Abschnitt. X. Fragment.
Verähnlichung wirken? Freylich nach verschiedentlich abwechselnden und veränderlichen Umständen
auch unendlich verschieden, und so, daß der Keim auch gewiß genug eigene Art behält, die allemal
von Vater oder Mutter noch wohl unterschieden ist, zuweilen auch wenig genug von ihnen scheint
angenommen zu haben, wie aus tausend zufälligen Ursachen oder Veränderungen sich ereignen kann.
Daher, Aehnlichkeiten und Unähnlichkeiten in Familien summarisch betrachtet, die ganze zur Fort-
pflanzung eingerichtete Natur so zu einigem Gleichgewichte der Jndividualkraft des Keims von
seiner ersten Gestalt und der Verähnlichungskraft der Aeltern scheint angelegt zu seyn, daß weder
die Originalität oder erste Formirungseigenheit des Keims ganz verschwinde, noch die Verähnli-
chungskraft der Aeltern alles vermöge, sondern beydes in einander zu wirken bestimmt, beydes un-
zähligen Umständen zu mehrerer und minderer Entwickelung unterworfen sey, damit der Reichthum
der Mannichfaltigkeit und Nutzbarkeit der Geschöpfe und ihre Abhänglichkeit unter einander vom
Ganzen und dem allgemeinen Urheber desto größer und allherrlicher werde. *)

Bis dahin ist mir, nach allen Beobachtungen, die ich über die Aehnlichkeit der Kinder mit
ihren Aeltern zu machen Gelegenheit gehabt, wenigstens so viel vollkommen klar geworden, daß --
weder die Bonnetsche noch Büffonsche Theorie hinreichend ist, das Phänomen, das keine Hy-
pothese wegsophistisiren kann, auch nur einigermaßen beruhigend zu erklären. Denn man vermin-
dere die Schwierigkeiten so sehr man will, immer bleiben noch unzählige offne Fakta vor Augen.
Wenn in der Mutter der präformirte Keim liegt, kann dieser Keim schon Physiognomie ha-
ben?
Schon dem künftigen willkührlichen ersten, willkührlichen zweyten Vater ähnlich seyn? Jst
er's nicht, wie ihm vollkommen ähnlich werden? -- Liegt der allenfalls schon physiognomische Keim
im Vater, wie kann er das einemal der Mutter, dem Vater das anderemal, oft beyden zugleich,
oft keinem von beyden, ähnlich werden?

Mich dünkt, etwas keimliches, das heißt, ein zur Menschengestalt organisirbares Gan-
zes
muß in der Mutter vorhanden seyn; aber etwas, das nichts ist -- als Bestimmungsgrund
des so und so beschaffenen väterlichen und mütterlichen, ich weiß nicht was, das die Caussa ef-
fiziens
der lebendig werdenden Frucht ist. Dieß unbestimmte, freylich der Natur und Tempera-

tur
*) Gedanken eines Freundes.

V. Abſchnitt. X. Fragment.
Veraͤhnlichung wirken? Freylich nach verſchiedentlich abwechſelnden und veraͤnderlichen Umſtaͤnden
auch unendlich verſchieden, und ſo, daß der Keim auch gewiß genug eigene Art behaͤlt, die allemal
von Vater oder Mutter noch wohl unterſchieden iſt, zuweilen auch wenig genug von ihnen ſcheint
angenommen zu haben, wie aus tauſend zufaͤlligen Urſachen oder Veraͤnderungen ſich ereignen kann.
Daher, Aehnlichkeiten und Unaͤhnlichkeiten in Familien ſummariſch betrachtet, die ganze zur Fort-
pflanzung eingerichtete Natur ſo zu einigem Gleichgewichte der Jndividualkraft des Keims von
ſeiner erſten Geſtalt und der Veraͤhnlichungskraft der Aeltern ſcheint angelegt zu ſeyn, daß weder
die Originalitaͤt oder erſte Formirungseigenheit des Keims ganz verſchwinde, noch die Veraͤhnli-
chungskraft der Aeltern alles vermoͤge, ſondern beydes in einander zu wirken beſtimmt, beydes un-
zaͤhligen Umſtaͤnden zu mehrerer und minderer Entwickelung unterworfen ſey, damit der Reichthum
der Mannichfaltigkeit und Nutzbarkeit der Geſchoͤpfe und ihre Abhaͤnglichkeit unter einander vom
Ganzen und dem allgemeinen Urheber deſto groͤßer und allherrlicher werde. *)

Bis dahin iſt mir, nach allen Beobachtungen, die ich uͤber die Aehnlichkeit der Kinder mit
ihren Aeltern zu machen Gelegenheit gehabt, wenigſtens ſo viel vollkommen klar geworden, daß —
weder die Bonnetſche noch Buͤffonſche Theorie hinreichend iſt, das Phaͤnomen, das keine Hy-
potheſe wegſophiſtiſiren kann, auch nur einigermaßen beruhigend zu erklaͤren. Denn man vermin-
dere die Schwierigkeiten ſo ſehr man will, immer bleiben noch unzaͤhlige offne Fakta vor Augen.
Wenn in der Mutter der praͤformirte Keim liegt, kann dieſer Keim ſchon Phyſiognomie ha-
ben?
Schon dem kuͤnftigen willkuͤhrlichen erſten, willkuͤhrlichen zweyten Vater aͤhnlich ſeyn? Jſt
er’s nicht, wie ihm vollkommen aͤhnlich werden? — Liegt der allenfalls ſchon phyſiognomiſche Keim
im Vater, wie kann er das einemal der Mutter, dem Vater das anderemal, oft beyden zugleich,
oft keinem von beyden, aͤhnlich werden?

Mich duͤnkt, etwas keimliches, das heißt, ein zur Menſchengeſtalt organiſirbares Gan-
zes
muß in der Mutter vorhanden ſeyn; aber etwas, das nichts iſt — als Beſtimmungsgrund
des ſo und ſo beſchaffenen vaͤterlichen und muͤtterlichen, ich weiß nicht was, das die Cauſſa ef-
fiziens
der lebendig werdenden Frucht iſt. Dieß unbeſtimmte, freylich der Natur und Tempera-

tur
*) Gedanken eines Freundes.
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[334/0394] V. Abſchnitt. X. Fragment. Veraͤhnlichung wirken? Freylich nach verſchiedentlich abwechſelnden und veraͤnderlichen Umſtaͤnden auch unendlich verſchieden, und ſo, daß der Keim auch gewiß genug eigene Art behaͤlt, die allemal von Vater oder Mutter noch wohl unterſchieden iſt, zuweilen auch wenig genug von ihnen ſcheint angenommen zu haben, wie aus tauſend zufaͤlligen Urſachen oder Veraͤnderungen ſich ereignen kann. Daher, Aehnlichkeiten und Unaͤhnlichkeiten in Familien ſummariſch betrachtet, die ganze zur Fort- pflanzung eingerichtete Natur ſo zu einigem Gleichgewichte der Jndividualkraft des Keims von ſeiner erſten Geſtalt und der Veraͤhnlichungskraft der Aeltern ſcheint angelegt zu ſeyn, daß weder die Originalitaͤt oder erſte Formirungseigenheit des Keims ganz verſchwinde, noch die Veraͤhnli- chungskraft der Aeltern alles vermoͤge, ſondern beydes in einander zu wirken beſtimmt, beydes un- zaͤhligen Umſtaͤnden zu mehrerer und minderer Entwickelung unterworfen ſey, damit der Reichthum der Mannichfaltigkeit und Nutzbarkeit der Geſchoͤpfe und ihre Abhaͤnglichkeit unter einander vom Ganzen und dem allgemeinen Urheber deſto groͤßer und allherrlicher werde. *) Bis dahin iſt mir, nach allen Beobachtungen, die ich uͤber die Aehnlichkeit der Kinder mit ihren Aeltern zu machen Gelegenheit gehabt, wenigſtens ſo viel vollkommen klar geworden, daß — weder die Bonnetſche noch Buͤffonſche Theorie hinreichend iſt, das Phaͤnomen, das keine Hy- potheſe wegſophiſtiſiren kann, auch nur einigermaßen beruhigend zu erklaͤren. Denn man vermin- dere die Schwierigkeiten ſo ſehr man will, immer bleiben noch unzaͤhlige offne Fakta vor Augen. Wenn in der Mutter der praͤformirte Keim liegt, kann dieſer Keim ſchon Phyſiognomie ha- ben? Schon dem kuͤnftigen willkuͤhrlichen erſten, willkuͤhrlichen zweyten Vater aͤhnlich ſeyn? Jſt er’s nicht, wie ihm vollkommen aͤhnlich werden? — Liegt der allenfalls ſchon phyſiognomiſche Keim im Vater, wie kann er das einemal der Mutter, dem Vater das anderemal, oft beyden zugleich, oft keinem von beyden, aͤhnlich werden? Mich duͤnkt, etwas keimliches, das heißt, ein zur Menſchengeſtalt organiſirbares Gan- zes muß in der Mutter vorhanden ſeyn; aber etwas, das nichts iſt — als Beſtimmungsgrund des ſo und ſo beſchaffenen vaͤterlichen und muͤtterlichen, ich weiß nicht was, das die Cauſſa ef- fiziens der lebendig werdenden Frucht iſt. Dieß unbeſtimmte, freylich der Natur und Tempera- tur *) Gedanken eines Freundes.

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778, S. 334. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/394>, abgerufen am 18.04.2024.