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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778.

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I. Abschnitt. III. Fragment.
Drittes Fragment.
Homogenität, Gleichartigkeit, Harmonie, Einfachheit der
menschlichen Bildung.

Die Natur wirkt in allen ihren Organisationen immer von innen heraus; aus einem Mittel-
punkt auf den ganzen Umkreiß. Dieselbe Lebenskraft, die das Herz schlagen macht, bewegt den
Finger. Dieselbe Kraft wölbt den Schädel -- und den Nagel an der kleinsten Zähe. Die Kunst
flickt zusammen; die Natur nicht. Sie bildet alles aus Einem zu Einem. Aus dem Haupte den
Rücken; aus den Schultern die Arme; aus den Armen die Hände; aus den Händen die Finger.
Alles aus Wurzel in Stamm; aus Stamm in Aeste; aus Aesten in Zweige; aus Zweigen in Blü-
then und Früchte. Eins hängt am andern, als an seiner Wurzel. Eins hat die Natur des andern.
Jedes ist dem andern gleichartig. Mit allen seinen Bestimmungen kann kein Apfel des Zweiges a
Apfel des Zweiges b seyn -- geschweige Apfel eines andern Baumes. Er ist ein bestimmter Ef-
fekt einer bestimmten Kraft. So alles in der Natur. Jede bestimmte Kraft bringt nur so und so
bestimmte Wirkungen hervor. Daher paßt kein Menschenfinger genau an eines andern Hand. Je-
der Theil eines organischen Ganzen ist Bild des Ganzen; hat den Charakter des Ganzen. Das
Blut in der Fingerspitze hat denselben Charakter des Blutes im Herzen. So die Nerven. So die
Knochen. Jn allen lebt Ein Geist. So wie jeder Theil des Körpers sein Verhältniß hat zu dem
Körper, von dem er einen Theil ausmacht -- So wie aus der Länge des kleinsten Gliedes, des
kleinsten Gelenkes an einem Finger, die Proportion des Ganzen, die Länge und Breite des Körpers
gefunden und bestimmt werden kann; -- so auch die Form des Ganzen aus der Form jedes einzel-
nen Theiles. Alles ist länglicht, wenn es der Kopf ist. Alles rund, wenn der rund ist. Alles ge-
viert, wenn er geviert ist. Alles hat Eine Form; Einen Geist; Eine Wurzel. Daher ist jeder or-
ganische Körper so Ein Ganzes, daß ohne Disharmonie, Zerrüttung oder Verunstaltung nichts
weggeschnitten, nichts angeflickt werden kann. Alles fließt am Menschen aus Einem in Eins. Al-
les ist an ihm homogen. Bildung, Statur, Farbe, Haar, Haut, Adern, Nerven, Knochen, Stim-
me, Gang, Handlungsweise, Styl, Leidenschaft, Liebe, Haß. Jmmer in allem zeigt sich ein und

ebender-
I. Abſchnitt. III. Fragment.
Drittes Fragment.
Homogenitaͤt, Gleichartigkeit, Harmonie, Einfachheit der
menſchlichen Bildung.

Die Natur wirkt in allen ihren Organiſationen immer von innen heraus; aus einem Mittel-
punkt auf den ganzen Umkreiß. Dieſelbe Lebenskraft, die das Herz ſchlagen macht, bewegt den
Finger. Dieſelbe Kraft woͤlbt den Schaͤdel — und den Nagel an der kleinſten Zaͤhe. Die Kunſt
flickt zuſammen; die Natur nicht. Sie bildet alles aus Einem zu Einem. Aus dem Haupte den
Ruͤcken; aus den Schultern die Arme; aus den Armen die Haͤnde; aus den Haͤnden die Finger.
Alles aus Wurzel in Stamm; aus Stamm in Aeſte; aus Aeſten in Zweige; aus Zweigen in Bluͤ-
then und Fruͤchte. Eins haͤngt am andern, als an ſeiner Wurzel. Eins hat die Natur des andern.
Jedes iſt dem andern gleichartig. Mit allen ſeinen Beſtimmungen kann kein Apfel des Zweiges a
Apfel des Zweiges b ſeyn — geſchweige Apfel eines andern Baumes. Er iſt ein beſtimmter Ef-
fekt einer beſtimmten Kraft. So alles in der Natur. Jede beſtimmte Kraft bringt nur ſo und ſo
beſtimmte Wirkungen hervor. Daher paßt kein Menſchenfinger genau an eines andern Hand. Je-
der Theil eines organiſchen Ganzen iſt Bild des Ganzen; hat den Charakter des Ganzen. Das
Blut in der Fingerſpitze hat denſelben Charakter des Blutes im Herzen. So die Nerven. So die
Knochen. Jn allen lebt Ein Geiſt. So wie jeder Theil des Koͤrpers ſein Verhaͤltniß hat zu dem
Koͤrper, von dem er einen Theil ausmacht — So wie aus der Laͤnge des kleinſten Gliedes, des
kleinſten Gelenkes an einem Finger, die Proportion des Ganzen, die Laͤnge und Breite des Koͤrpers
gefunden und beſtimmt werden kann; — ſo auch die Form des Ganzen aus der Form jedes einzel-
nen Theiles. Alles iſt laͤnglicht, wenn es der Kopf iſt. Alles rund, wenn der rund iſt. Alles ge-
viert, wenn er geviert iſt. Alles hat Eine Form; Einen Geiſt; Eine Wurzel. Daher iſt jeder or-
ganiſche Koͤrper ſo Ein Ganzes, daß ohne Disharmonie, Zerruͤttung oder Verunſtaltung nichts
weggeſchnitten, nichts angeflickt werden kann. Alles fließt am Menſchen aus Einem in Eins. Al-
les iſt an ihm homogen. Bildung, Statur, Farbe, Haar, Haut, Adern, Nerven, Knochen, Stim-
me, Gang, Handlungsweiſe, Styl, Leidenſchaft, Liebe, Haß. Jmmer in allem zeigt ſich ein und

ebender-
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[40/0062] I. Abſchnitt. III. Fragment. Drittes Fragment. Homogenitaͤt, Gleichartigkeit, Harmonie, Einfachheit der menſchlichen Bildung. Die Natur wirkt in allen ihren Organiſationen immer von innen heraus; aus einem Mittel- punkt auf den ganzen Umkreiß. Dieſelbe Lebenskraft, die das Herz ſchlagen macht, bewegt den Finger. Dieſelbe Kraft woͤlbt den Schaͤdel — und den Nagel an der kleinſten Zaͤhe. Die Kunſt flickt zuſammen; die Natur nicht. Sie bildet alles aus Einem zu Einem. Aus dem Haupte den Ruͤcken; aus den Schultern die Arme; aus den Armen die Haͤnde; aus den Haͤnden die Finger. Alles aus Wurzel in Stamm; aus Stamm in Aeſte; aus Aeſten in Zweige; aus Zweigen in Bluͤ- then und Fruͤchte. Eins haͤngt am andern, als an ſeiner Wurzel. Eins hat die Natur des andern. Jedes iſt dem andern gleichartig. Mit allen ſeinen Beſtimmungen kann kein Apfel des Zweiges a Apfel des Zweiges b ſeyn — geſchweige Apfel eines andern Baumes. Er iſt ein beſtimmter Ef- fekt einer beſtimmten Kraft. So alles in der Natur. Jede beſtimmte Kraft bringt nur ſo und ſo beſtimmte Wirkungen hervor. Daher paßt kein Menſchenfinger genau an eines andern Hand. Je- der Theil eines organiſchen Ganzen iſt Bild des Ganzen; hat den Charakter des Ganzen. Das Blut in der Fingerſpitze hat denſelben Charakter des Blutes im Herzen. So die Nerven. So die Knochen. Jn allen lebt Ein Geiſt. So wie jeder Theil des Koͤrpers ſein Verhaͤltniß hat zu dem Koͤrper, von dem er einen Theil ausmacht — So wie aus der Laͤnge des kleinſten Gliedes, des kleinſten Gelenkes an einem Finger, die Proportion des Ganzen, die Laͤnge und Breite des Koͤrpers gefunden und beſtimmt werden kann; — ſo auch die Form des Ganzen aus der Form jedes einzel- nen Theiles. Alles iſt laͤnglicht, wenn es der Kopf iſt. Alles rund, wenn der rund iſt. Alles ge- viert, wenn er geviert iſt. Alles hat Eine Form; Einen Geiſt; Eine Wurzel. Daher iſt jeder or- ganiſche Koͤrper ſo Ein Ganzes, daß ohne Disharmonie, Zerruͤttung oder Verunſtaltung nichts weggeſchnitten, nichts angeflickt werden kann. Alles fließt am Menſchen aus Einem in Eins. Al- les iſt an ihm homogen. Bildung, Statur, Farbe, Haar, Haut, Adern, Nerven, Knochen, Stim- me, Gang, Handlungsweiſe, Styl, Leidenſchaft, Liebe, Haß. Jmmer in allem zeigt ſich ein und ebender-

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778, S. 40. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/62>, abgerufen am 24.04.2024.