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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778.

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Vom Einflusse der Physiognomien auf Physiognomien.
einander sehr verschieden sind -- können sich lieben, sich mittheilen, sich anziehen, sich einander ver-
ähnlichen; ja oft kann ihre Aehnlichkeit noch auffallender werden, als jener -- wenn sie von wei-
cher, empfänglicher und empfindlicher Art sind. --

Diese Verähnlichung der Gesichter durch wechselseitige Anziehung der Liebe -- ist indessen
immer Resultat der innern Natur und Organisation, mithin auch des Charakters der Menschen.
Sie hat immer ihren Grund in einer vorhergehenden, vielleicht unbemerkbaren Aehnlichkeit, die viel-
leicht nie belebt, nie hervorgerufen, nie vermuthet worden wäre, wenn sie sich nicht bey der Er-
scheinung des sympathischen Wesens geregt hätte.

Es wäre von erstaunlicher Wichtigkeit, Charakter derjenigen Gesichter anzugeben -- die
leicht andre sich, oder sich andern verähnlichen. Man muß ohne mein Erinnern wissen, daß es Ge-
sichter giebt, die alle andere anziehen, und solche, die alle andere zurückstoßen -- und solche, die
alle andere gleichgültig lassen. Die alle zurückstoßenden -- verunedeln alle unedle Gesichter, auf
die sie lange gebieterisch wirken. Die gleichgültigen verändern nicht. Die alles anziehenden sind
entweder bloß nehmend, oder gebend, oder wechselsweise, oder zugleich gebend und nehmend. Die
ersten verändern ein wenig. Die zweyten mehr. Am meisten die dritten -- ces ames, von denen
Hemsterhuys der jüngere sagt -- ces ames, qui heureusement, ou malheureusement
joignent le tact le plus fin & le plus exquis a cet enorme elasticite interne, qui les
fait aimer & desirer avec fureur & sentir avec exces, c'est a-dire, ces ames, qui sont
ou modifiees, ou placees de telle facon, que leur force attractive trouve le moins d'ob-
stacles dans sa tendance vers leur but.
*)

Von der äußersten Wichtigkeit wär's, diese Einflüsse einer Physiognomie auf die andere,
dieß Uebergehen eines Geistes in den andern zu studieren. -- Jch habe die Verähnlichung am auf-
fallendsten gefunden, wenn ein reich gebendes und ein ganz empfangendes Genie, aus Liebe oder
aus Bedürfniß abzuladen und aufzunehmen -- eine Zeitlang ohne fremde Dazwischenkunften mit ein-
ander lebten. Hatte der Gebende ausgegeben, und ausempfangen der Empfänger -- so hatte
auch die Verähnlichung ihrer Physiognomie, wenn ich so sagen darf, das Punctum saturationis
erreicht. --

Und
*) Sur les Desirs. p. 14.
H 3

Vom Einfluſſe der Phyſiognomien auf Phyſiognomien.
einander ſehr verſchieden ſind — koͤnnen ſich lieben, ſich mittheilen, ſich anziehen, ſich einander ver-
aͤhnlichen; ja oft kann ihre Aehnlichkeit noch auffallender werden, als jener — wenn ſie von wei-
cher, empfaͤnglicher und empfindlicher Art ſind. —

Dieſe Veraͤhnlichung der Geſichter durch wechſelſeitige Anziehung der Liebe — iſt indeſſen
immer Reſultat der innern Natur und Organiſation, mithin auch des Charakters der Menſchen.
Sie hat immer ihren Grund in einer vorhergehenden, vielleicht unbemerkbaren Aehnlichkeit, die viel-
leicht nie belebt, nie hervorgerufen, nie vermuthet worden waͤre, wenn ſie ſich nicht bey der Er-
ſcheinung des ſympathiſchen Weſens geregt haͤtte.

Es waͤre von erſtaunlicher Wichtigkeit, Charakter derjenigen Geſichter anzugeben — die
leicht andre ſich, oder ſich andern veraͤhnlichen. Man muß ohne mein Erinnern wiſſen, daß es Ge-
ſichter giebt, die alle andere anziehen, und ſolche, die alle andere zuruͤckſtoßen — und ſolche, die
alle andere gleichguͤltig laſſen. Die alle zuruͤckſtoßenden — verunedeln alle unedle Geſichter, auf
die ſie lange gebieteriſch wirken. Die gleichguͤltigen veraͤndern nicht. Die alles anziehenden ſind
entweder bloß nehmend, oder gebend, oder wechſelsweiſe, oder zugleich gebend und nehmend. Die
erſten veraͤndern ein wenig. Die zweyten mehr. Am meiſten die dritten — ces ames, von denen
Hemſterhuys der juͤngere ſagt — ces ames, qui heureuſement, ou malheureuſement
joignent le tact le plus fin & le plus exquis à cet enorme élaſticité interne, qui les
fait aimer & deſirer avec fureur & ſentir avec excés, c’eſt à-dire, ces ames, qui ſont
ou modifiées, ou placées de telle façon, que leur force attractive trouve le moins d’ob-
ſtacles dans ſa tendance vers leur but.
*)

Von der aͤußerſten Wichtigkeit waͤr’s, dieſe Einfluͤſſe einer Phyſiognomie auf die andere,
dieß Uebergehen eines Geiſtes in den andern zu ſtudieren. — Jch habe die Veraͤhnlichung am auf-
fallendſten gefunden, wenn ein reich gebendes und ein ganz empfangendes Genie, aus Liebe oder
aus Beduͤrfniß abzuladen und aufzunehmen — eine Zeitlang ohne fremde Dazwiſchenkunften mit ein-
ander lebten. Hatte der Gebende ausgegeben, und ausempfangen der Empfaͤnger — ſo hatte
auch die Veraͤhnlichung ihrer Phyſiognomie, wenn ich ſo ſagen darf, das Punctum ſaturationis
erreicht. —

Und
*) Sur les Deſirs. p. 14.
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[61/0087] Vom Einfluſſe der Phyſiognomien auf Phyſiognomien. einander ſehr verſchieden ſind — koͤnnen ſich lieben, ſich mittheilen, ſich anziehen, ſich einander ver- aͤhnlichen; ja oft kann ihre Aehnlichkeit noch auffallender werden, als jener — wenn ſie von wei- cher, empfaͤnglicher und empfindlicher Art ſind. — Dieſe Veraͤhnlichung der Geſichter durch wechſelſeitige Anziehung der Liebe — iſt indeſſen immer Reſultat der innern Natur und Organiſation, mithin auch des Charakters der Menſchen. Sie hat immer ihren Grund in einer vorhergehenden, vielleicht unbemerkbaren Aehnlichkeit, die viel- leicht nie belebt, nie hervorgerufen, nie vermuthet worden waͤre, wenn ſie ſich nicht bey der Er- ſcheinung des ſympathiſchen Weſens geregt haͤtte. Es waͤre von erſtaunlicher Wichtigkeit, Charakter derjenigen Geſichter anzugeben — die leicht andre ſich, oder ſich andern veraͤhnlichen. Man muß ohne mein Erinnern wiſſen, daß es Ge- ſichter giebt, die alle andere anziehen, und ſolche, die alle andere zuruͤckſtoßen — und ſolche, die alle andere gleichguͤltig laſſen. Die alle zuruͤckſtoßenden — verunedeln alle unedle Geſichter, auf die ſie lange gebieteriſch wirken. Die gleichguͤltigen veraͤndern nicht. Die alles anziehenden ſind entweder bloß nehmend, oder gebend, oder wechſelsweiſe, oder zugleich gebend und nehmend. Die erſten veraͤndern ein wenig. Die zweyten mehr. Am meiſten die dritten — ces ames, von denen Hemſterhuys der juͤngere ſagt — ces ames, qui heureuſement, ou malheureuſement joignent le tact le plus fin & le plus exquis à cet enorme élaſticité interne, qui les fait aimer & deſirer avec fureur & ſentir avec excés, c’eſt à-dire, ces ames, qui ſont ou modifiées, ou placées de telle façon, que leur force attractive trouve le moins d’ob- ſtacles dans ſa tendance vers leur but. *) Von der aͤußerſten Wichtigkeit waͤr’s, dieſe Einfluͤſſe einer Phyſiognomie auf die andere, dieß Uebergehen eines Geiſtes in den andern zu ſtudieren. — Jch habe die Veraͤhnlichung am auf- fallendſten gefunden, wenn ein reich gebendes und ein ganz empfangendes Genie, aus Liebe oder aus Beduͤrfniß abzuladen und aufzunehmen — eine Zeitlang ohne fremde Dazwiſchenkunften mit ein- ander lebten. Hatte der Gebende ausgegeben, und ausempfangen der Empfaͤnger — ſo hatte auch die Veraͤhnlichung ihrer Phyſiognomie, wenn ich ſo ſagen darf, das Punctum ſaturationis erreicht. — Und *) Sur les Deſirs. p. 14. H 3

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778, S. 61. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/87>, abgerufen am 18.04.2024.