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Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.

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Erster Teil. ple_001.002
Historisch-kritische Grundlegung.


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1. Praktische und theoretische Bedeutung der Poetik.

Wie so ple_001.004
viele andere theoretische Wissenschaften verdankt auch die Poetik ihren ple_001.005
Ursprung einem praktischen Bedürfnis. Der Dichter, der schöpferisch in ple_001.006
eine literarische Tradition eintritt, muß die Formen und Mittel der Dichtung, ple_001.007
die seine Vorgänger entwickelt und benutzt haben, kennen, um sie selbst ple_001.008
benutzen und weiter entwickeln zu können. Die Regeln der Poetik sind ple_001.009
zunächst nichts anderes als technische Vorschriften für den praktischen ple_001.010
Gebrauch
des schaffenden Dichters oder auch des Liebhabers, ple_001.011
der ihn verstehen und gelegentlich nachahmen will. Damit braucht noch ple_001.012
keineswegs angenommen zu sein, daß ein jeder auch ohne natürliche ple_001.013
Begabung dichten lernen kann; wohl aber ist vorausgesetzt, daß in der ple_001.014
Poesie, wie bei jeder anderen Kunstübung auch, zur natürlichen Begabung ple_001.015
ein gewisses Lehrgut, eine erlernbare Technik hinzukommen muß, wenn ple_001.016
wirkliche Kunstwerke entstehen sollen. In diesem Sinne ist der Unterricht ple_001.017
in der Poetik in die Lateinschule der Renaissance eingeführt worden, und ple_001.018
so hat er sich in die lateinischen und später in die deutschen Stunden ple_001.019
des neuhumanistischen Gymnasiums fortgepflanzt. Noch heute ist er nicht ple_001.020
völlig verschwunden: zahlreiche Schulkompendien, welche die alt überlieferten ple_001.021
Formen, mit mehr oder weniger modernen Zutaten versetzt, weiter ple_001.022
geben, legen davon Zeugnis ab, wiewohl der Zweck, der dieser Unterweisung ple_001.023
einst Sinn und Wert verlieh, mit der Übung, lateinische oder ple_001.024
deutsche Verse zu machen, verloren gegangen ist. Das Muster einer systematischen ple_001.025
Poetik großen Stils, die einem solchen praktischen Bedürfnis ple_001.026
dienen wollte, bildete einst das berühmte Buch des Julius Cäsar Scaliger ple_001.027
(1561 erschienen), welches die Regeln und Schemata der antiken Poesie ple_001.028
im Sinne und für den Gebrauch des Humanismus zusammenfaßte und für ple_001.029
zahllose spätere Lehrbücher Stoff und Vorbild gegeben hat. Aber auch ple_001.030
solche Behandlungen der Poetik, welche nicht den elementaren oder wissenschaftlichen ple_001.031
Schulgebrauch, sondern das literarische Bedürfnis selbst im

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einst Sinn und Wert verlieh, mit der Übung, lateinische oder ple_001.024
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Zitationshilfe: Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908, S. E1. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lehmann_poetik_1908/15>, abgerufen am 19.04.2024.