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Lehnert, Josef von u. a.: Die Seehäfen des Weltverkehrs. Bd. 2. Wien, 1892.

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Tanger.

Tanger (Tanjah oder Tandscha) ist der wichtigste Hafen von
Marokko und ein von altersher bekannter Punkt. Die Lage am Ein-
gange der Meerenge, welche das Mittelmeer mit dem Atlantischen
Ocean verbindet, an einer Stelle, wo Afrika Europa fast die Hand
reicht, verleiht diesem Punkte eine gewisse Bedeutung. Dort führt
gleichsam eine Brücke von einem Welttheile zu dem anderen.

Tanger hat eine weit zurückgreifende Geschichte. Ein Zeitgenosse Belisars,
der Historiker Procopius, erzählt von einer altphönikischen Inschrift, die zu
Tanger gefunden wurde, welcher zufolge zur Zeit der Eroberung Palästinas durch
Israeliten geflüchtete Kanaaniter die Stadt gegründet haben.

Die Römer hatten hier eine Colonie, Tingis genannt, den Hauptort
des westlichen Mauritanien, der sogenannten Provincia Tingitana. Sie verloren diese
Provinz und damit auch die Stadt an die Westgothen, welche im V. Jahrhunderte
das nördliche Afrika eroberten; 300 Jahre später mussten die Westgothen den Arabern
weichen. Im Jahre 1471 eroberten die Portugiesen, damals eine starke, nach über-
seeischem Besitz energisch strebende Seemacht, den Platz und behaupteten sich
daselbst bis ins XVII. Jahrhundert. Im Jahre 1662 verheiratete König
Johann VI. seine Schwester Katharina an Karl II. von England und schenkte ihr
Tanger als Heiratsgut. Aber in England legte man auf dieses Geschenk wenig
Werth, fand dasselbe vielmehr lästig und kostspielig. Man zerstörte daher bald
die Festungswerke und überliess im Jahre 1684 Tanger an den Sultan Mulei
Ismail, welcher es wenige Jahre später an den Sultan von Marokko verlor.
Seither befindet sich die Stadt unter dem heutigen Regimente. Es wird be-
richtet, dass die Engländer bei ihrem Abzuge sogar den schönen Damm zerstört
haben, welcher vorher zum Schutze des Hafens trefflich gedient hatte. Hätten
übrigens die Engländer geahnt, dass sie wenige Decennien nach dem Aufgeben
Tangers die starke Stellung von Gibraltar erwerben würden, so hätten sie
sicherlich einen anderen Entschluss gefasst. Dann würden sie völlig Herren
über die Einfahrt in das Mittelmeer geworden sein. Tanger hat zweimal für
die Ausschreitungen seiner marokkanischen Beherrscher büssen müssen. Im Jahre
1790 wurde es von einer spanischen Flotte bombardirt, und 1848 erlitt es wegen
Behelligung französischer Handelsschiffe das gleiche Schicksal durch die Franzosen
unter Befehl des Prinzen von Joinville.


Tanger.

Tanger (Tanjah oder Tandscha) ist der wichtigste Hafen von
Marokko und ein von altersher bekannter Punkt. Die Lage am Ein-
gange der Meerenge, welche das Mittelmeer mit dem Atlantischen
Ocean verbindet, an einer Stelle, wo Afrika Europa fast die Hand
reicht, verleiht diesem Punkte eine gewisse Bedeutung. Dort führt
gleichsam eine Brücke von einem Welttheile zu dem anderen.

Tanger hat eine weit zurückgreifende Geschichte. Ein Zeitgenosse Belisars,
der Historiker Procopius, erzählt von einer altphönikischen Inschrift, die zu
Tanger gefunden wurde, welcher zufolge zur Zeit der Eroberung Palästinas durch
Israeliten geflüchtete Kanaaniter die Stadt gegründet haben.

Die Römer hatten hier eine Colonie, Tingis genannt, den Hauptort
des westlichen Mauritanien, der sogenannten Provincia Tingitana. Sie verloren diese
Provinz und damit auch die Stadt an die Westgothen, welche im V. Jahrhunderte
das nördliche Afrika eroberten; 300 Jahre später mussten die Westgothen den Arabern
weichen. Im Jahre 1471 eroberten die Portugiesen, damals eine starke, nach über-
seeischem Besitz energisch strebende Seemacht, den Platz und behaupteten sich
daselbst bis ins XVII. Jahrhundert. Im Jahre 1662 verheiratete König
Johann VI. seine Schwester Katharina an Karl II. von England und schenkte ihr
Tanger als Heiratsgut. Aber in England legte man auf dieses Geschenk wenig
Werth, fand dasselbe vielmehr lästig und kostspielig. Man zerstörte daher bald
die Festungswerke und überliess im Jahre 1684 Tanger an den Sultan Mulei
Ismaïl, welcher es wenige Jahre später an den Sultan von Marokko verlor.
Seither befindet sich die Stadt unter dem heutigen Regimente. Es wird be-
richtet, dass die Engländer bei ihrem Abzuge sogar den schönen Damm zerstört
haben, welcher vorher zum Schutze des Hafens trefflich gedient hatte. Hätten
übrigens die Engländer geahnt, dass sie wenige Decennien nach dem Aufgeben
Tangers die starke Stellung von Gibraltar erwerben würden, so hätten sie
sicherlich einen anderen Entschluss gefasst. Dann würden sie völlig Herren
über die Einfahrt in das Mittelmeer geworden sein. Tanger hat zweimal für
die Ausschreitungen seiner marokkanischen Beherrscher büssen müssen. Im Jahre
1790 wurde es von einer spanischen Flotte bombardirt, und 1848 erlitt es wegen
Behelligung französischer Handelsschiffe das gleiche Schicksal durch die Franzosen
unter Befehl des Prinzen von Joinville.


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Zitationshilfe: Lehnert, Josef von u. a.: Die Seehäfen des Weltverkehrs. Bd. 2. Wien, 1892, S. [738]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lehnert_seehaefen02_1892/754>, abgerufen am 28.03.2024.