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Lenz, Jakob Michael Reinhold: Anmerkungen übers Theater, nebst angehängten übersetzten Stück Shakespears. Leipzig, 1774.

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Daß das Schauspiel eine Nachahmung
und folglich einen Dichter fodere, wird
mir doch wohl nicht bestritten werden.
Schon im gemeinen Leben (fragen wir den
Pöbel, dessen Witz noch nicht so boßhaft ist,
Worte umzumünzen,) heißt ein geschickter
Nachahmer, ein guter Komödiant, und
wäre das Schauspiel was anders als Nach-
ahmung, es würde seine Schauer bald ver-
lieren. Jch getraue mich, zu behaupten,
daß thierische Befriedigungen ausgenom-
men, es für die menschliche Natur kein ein-
zig Vergnügen giebt, wo nicht Nachah-
mung mit zum Grunde läge -- die Nach-
ahmung der Gottheit mit eingerechnet u. s. w.

Herr Aristoteles selber sagt -- --

Es kommt itzt darauf an, was beym
Schauspiel eigentlich der Hauptgegenstand
der Nachahmung: der Mensch? oder das
Schicksal des Menschen? Hier liegt der
Knoten, aus dem zwey so verschiedene Ge-
webe ihren Ursprung genommen, als die
Schauspiele der Franzosen (sollen wir der
Griechen sagen?) und der ältern Engländer,
oder vielmehr überhaupt aller ältern nordi-
schen Nationen sind, die nicht griechisch ge-
sattelt waren.

Hören Sie also die Definition des Ari-
stoteles von der Tragödie, lassen Sie uns

her-
B 2


Daß das Schauſpiel eine Nachahmung
und folglich einen Dichter fodere, wird
mir doch wohl nicht beſtritten werden.
Schon im gemeinen Leben (fragen wir den
Poͤbel, deſſen Witz noch nicht ſo boßhaft iſt,
Worte umzumuͤnzen,) heißt ein geſchickter
Nachahmer, ein guter Komoͤdiant, und
waͤre das Schauſpiel was anders als Nach-
ahmung, es wuͤrde ſeine Schauer bald ver-
lieren. Jch getraue mich, zu behaupten,
daß thieriſche Befriedigungen ausgenom-
men, es fuͤr die menſchliche Natur kein ein-
zig Vergnuͤgen giebt, wo nicht Nachah-
mung mit zum Grunde laͤge — die Nach-
ahmung der Gottheit mit eingerechnet u. ſ. w.

Herr Ariſtoteles ſelber ſagt — —

Es kommt itzt darauf an, was beym
Schauſpiel eigentlich der Hauptgegenſtand
der Nachahmung: der Menſch? oder das
Schickſal des Menſchen? Hier liegt der
Knoten, aus dem zwey ſo verſchiedene Ge-
webe ihren Urſprung genommen, als die
Schauſpiele der Franzoſen (ſollen wir der
Griechen ſagen?) und der aͤltern Englaͤnder,
oder vielmehr uͤberhaupt aller aͤltern nordi-
ſchen Nationen ſind, die nicht griechiſch ge-
ſattelt waren.

Hoͤren Sie alſo die Definition des Ari-
ſtoteles von der Tragoͤdie, laſſen Sie uns

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B 2
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[19/0025] Daß das Schauſpiel eine Nachahmung und folglich einen Dichter fodere, wird mir doch wohl nicht beſtritten werden. Schon im gemeinen Leben (fragen wir den Poͤbel, deſſen Witz noch nicht ſo boßhaft iſt, Worte umzumuͤnzen,) heißt ein geſchickter Nachahmer, ein guter Komoͤdiant, und waͤre das Schauſpiel was anders als Nach- ahmung, es wuͤrde ſeine Schauer bald ver- lieren. Jch getraue mich, zu behaupten, daß thieriſche Befriedigungen ausgenom- men, es fuͤr die menſchliche Natur kein ein- zig Vergnuͤgen giebt, wo nicht Nachah- mung mit zum Grunde laͤge — die Nach- ahmung der Gottheit mit eingerechnet u. ſ. w. Herr Ariſtoteles ſelber ſagt — — Es kommt itzt darauf an, was beym Schauſpiel eigentlich der Hauptgegenſtand der Nachahmung: der Menſch? oder das Schickſal des Menſchen? Hier liegt der Knoten, aus dem zwey ſo verſchiedene Ge- webe ihren Urſprung genommen, als die Schauſpiele der Franzoſen (ſollen wir der Griechen ſagen?) und der aͤltern Englaͤnder, oder vielmehr uͤberhaupt aller aͤltern nordi- ſchen Nationen ſind, die nicht griechiſch ge- ſattelt waren. Hoͤren Sie alſo die Definition des Ari- ſtoteles von der Tragoͤdie, laſſen Sie uns her- B 2

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Zitationshilfe: Lenz, Jakob Michael Reinhold: Anmerkungen übers Theater, nebst angehängten übersetzten Stück Shakespears. Leipzig, 1774, S. 19. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lenz_anmerkungen_1774/25>, abgerufen am 18.04.2024.