Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769].

Bild:
<< vorherige Seite
Hamburgische
Dramaturgie.


Vier und dreyßigstes Stück.





Aber dennoch dünkt es mich immer ein weit
verzeihlicherer Fehler, seinen Personen
nicht die Charaktere zu geben, die ihnen
die Geschichte giebt, als in diesen freywillig ge-
wählten Charakteren selbst, es sey von Seiten
der innern Wahrscheinlichkeit, oder von Seiten
des Unterrichtenden, zu verstoßen. Denn jener
Fehler kann vollkommen mit dem Genie beste-
hen; nicht aber dieser. Dem Genie ist es ver-
gönnt, tausend Dinge nicht zu wissen, die jeder
Schulknabe weiß; nicht der erworbene Vorrath
seines Gedächtnisses, sondern das, was es aus
sich selbst, aus seinem eigenen Gefühl, hervor
zu bringen vermag, macht seinen Reichthum
aus; (*) was es gehört oder gelesen, hat es ent-
weder wieder vergessen, oder mag es weiter nicht

wissen,
(*) Pindarus Olymp. II. str. 5. v. 10.
L l
Hamburgiſche
Dramaturgie.


Vier und dreyßigſtes Stuͤck.





Aber dennoch duͤnkt es mich immer ein weit
verzeihlicherer Fehler, ſeinen Perſonen
nicht die Charaktere zu geben, die ihnen
die Geſchichte giebt, als in dieſen freywillig ge-
waͤhlten Charakteren ſelbſt, es ſey von Seiten
der innern Wahrſcheinlichkeit, oder von Seiten
des Unterrichtenden, zu verſtoßen. Denn jener
Fehler kann vollkommen mit dem Genie beſte-
hen; nicht aber dieſer. Dem Genie iſt es ver-
goͤnnt, tauſend Dinge nicht zu wiſſen, die jeder
Schulknabe weiß; nicht der erworbene Vorrath
ſeines Gedaͤchtniſſes, ſondern das, was es aus
ſich ſelbſt, aus ſeinem eigenen Gefuͤhl, hervor
zu bringen vermag, macht ſeinen Reichthum
aus; (*) was es gehoͤrt oder geleſen, hat es ent-
weder wieder vergeſſen, oder mag es weiter nicht

wiſſen,
(*) Pindarus Olymp. II. ſtr. 5. v. 10.
L l
<TEI>
  <text>
    <body>
      <pb facs="#f0279" n="[265]"/>
      <div n="1">
        <head> <hi rendition="#b">Hamburgi&#x017F;che<lb/><hi rendition="#g">Dramaturgie.</hi><lb/><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
Vier und dreyßig&#x017F;tes Stu&#x0364;ck.</hi> </head><lb/>
        <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        <dateline> <hi rendition="#c">Den 25&#x017F;ten Augu&#x017F;t, 1767.</hi> </dateline><lb/>
        <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        <p><hi rendition="#in">A</hi>ber dennoch du&#x0364;nkt es mich immer ein weit<lb/>
verzeihlicherer Fehler, &#x017F;einen Per&#x017F;onen<lb/>
nicht die Charaktere zu geben, die ihnen<lb/>
die Ge&#x017F;chichte giebt, als in die&#x017F;en freywillig ge-<lb/>
wa&#x0364;hlten Charakteren &#x017F;elb&#x017F;t, es &#x017F;ey von Seiten<lb/>
der innern Wahr&#x017F;cheinlichkeit, oder von Seiten<lb/>
des Unterrichtenden, zu ver&#x017F;toßen. Denn jener<lb/>
Fehler kann vollkommen mit dem Genie be&#x017F;te-<lb/>
hen; nicht aber die&#x017F;er. Dem Genie i&#x017F;t es ver-<lb/>
go&#x0364;nnt, tau&#x017F;end Dinge nicht zu wi&#x017F;&#x017F;en, die jeder<lb/>
Schulknabe weiß; nicht der erworbene Vorrath<lb/>
&#x017F;eines Geda&#x0364;chtni&#x017F;&#x017F;es, &#x017F;ondern das, was es aus<lb/>
&#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t, aus &#x017F;einem eigenen Gefu&#x0364;hl, hervor<lb/>
zu bringen vermag, macht &#x017F;einen Reichthum<lb/>
aus; <note place="foot" n="(*)"><hi rendition="#aq">Pindarus Olymp. II. &#x017F;tr. 5. v.</hi> 10.</note> was es geho&#x0364;rt oder gele&#x017F;en, hat es ent-<lb/>
weder wieder verge&#x017F;&#x017F;en, oder mag es weiter nicht<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">wi&#x017F;&#x017F;en,</fw><lb/>
<fw place="bottom" type="sig">L l</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[[265]/0279] Hamburgiſche Dramaturgie. Vier und dreyßigſtes Stuͤck. Den 25ſten Auguſt, 1767. Aber dennoch duͤnkt es mich immer ein weit verzeihlicherer Fehler, ſeinen Perſonen nicht die Charaktere zu geben, die ihnen die Geſchichte giebt, als in dieſen freywillig ge- waͤhlten Charakteren ſelbſt, es ſey von Seiten der innern Wahrſcheinlichkeit, oder von Seiten des Unterrichtenden, zu verſtoßen. Denn jener Fehler kann vollkommen mit dem Genie beſte- hen; nicht aber dieſer. Dem Genie iſt es ver- goͤnnt, tauſend Dinge nicht zu wiſſen, die jeder Schulknabe weiß; nicht der erworbene Vorrath ſeines Gedaͤchtniſſes, ſondern das, was es aus ſich ſelbſt, aus ſeinem eigenen Gefuͤhl, hervor zu bringen vermag, macht ſeinen Reichthum aus; (*) was es gehoͤrt oder geleſen, hat es ent- weder wieder vergeſſen, oder mag es weiter nicht wiſſen, (*) Pindarus Olymp. II. ſtr. 5. v. 10. L l

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/279
Zitationshilfe: [Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769], S. [265]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/279>, abgerufen am 24.04.2024.