Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769].

Bild:
<< vorherige Seite

Diese Zeilen versteht man ganz falsch, wenn
man Charlotten eine bäurische Neige, einen
dummen Knix machen läßt. Ihre Verbeugung
muß wohl gelernt seyn, und wie gesagt, ihrem
Tanzmeister keine Schande machen. Frau Praat-
gern muß sie nur noch nicht affektirt genug fin-
den. Charlotte verbeugt sich, und Frau Praat-
gern will, sie soll sich dabey zieren. Das ist der
ganze Unterschied, und Madame Löwen be-
merkte ihn sehr wohl, ob ich gleich nicht glaube,
daß die Praatgern sonst eine Rolle für sie ist. Sie
kann die feine Frau zu wenig verbergen, und
gewissen Gesichtern wollen nichtswürdige Hand-
lungen, dergleichung die Vertauschung einer
Tochter ist, durchaus nicht lassen.

Den eilften Abend (Mittewochs, den 6ten
May,) ward Miß Sara Sampson aufgeführet.

Man kann von der Kunst nichts mehr verlan-
gen, als was Madame Henseln in der Rolle der
Sara leistet, und das Stück ward überhaupt
sehr gut gespielet. Es ist ein wenig zu lang,
und man verkürzt es daher auf den meisten Thea-
tern. Ob der Verfasser mit allen diesen Ver-
kürzungen so recht zufrieden ist, daran zweifle
ich fast. Man weiß ja, wie die Autores sind;
wenn man ihnen auch nur einen Niednagel neh-
men will, so schreyen sie gleich: Ihr kommt mir
ans Leben! Freylich ist der übermäßigen Länge
eines Stücks, durch das bloße Weglassen, nur

übel

Dieſe Zeilen verſteht man ganz falſch, wenn
man Charlotten eine baͤuriſche Neige, einen
dummen Knix machen laͤßt. Ihre Verbeugung
muß wohl gelernt ſeyn, und wie geſagt, ihrem
Tanzmeiſter keine Schande machen. Frau Praat-
gern muß ſie nur noch nicht affektirt genug fin-
den. Charlotte verbeugt ſich, und Frau Praat-
gern will, ſie ſoll ſich dabey zieren. Das iſt der
ganze Unterſchied, und Madame Loͤwen be-
merkte ihn ſehr wohl, ob ich gleich nicht glaube,
daß die Praatgern ſonſt eine Rolle fuͤr ſie iſt. Sie
kann die feine Frau zu wenig verbergen, und
gewiſſen Geſichtern wollen nichtswuͤrdige Hand-
lungen, dergleichung die Vertauſchung einer
Tochter iſt, durchaus nicht laſſen.

Den eilften Abend (Mittewochs, den 6ten
May,) ward Miß Sara Sampſon aufgefuͤhret.

Man kann von der Kunſt nichts mehr verlan-
gen, als was Madame Henſeln in der Rolle der
Sara leiſtet, und das Stuͤck ward uͤberhaupt
ſehr gut geſpielet. Es iſt ein wenig zu lang,
und man verkuͤrzt es daher auf den meiſten Thea-
tern. Ob der Verfaſſer mit allen dieſen Ver-
kuͤrzungen ſo recht zufrieden iſt, daran zweifle
ich faſt. Man weiß ja, wie die Autores ſind;
wenn man ihnen auch nur einen Niednagel neh-
men will, ſo ſchreyen ſie gleich: Ihr kommt mir
ans Leben! Freylich iſt der uͤbermaͤßigen Laͤnge
eines Stuͤcks, durch das bloße Weglaſſen, nur

uͤbel
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0117" n="103"/>
        <p>Die&#x017F;e Zeilen ver&#x017F;teht man ganz fal&#x017F;ch, wenn<lb/>
man Charlotten eine ba&#x0364;uri&#x017F;che Neige, einen<lb/>
dummen Knix machen la&#x0364;ßt. Ihre Verbeugung<lb/>
muß wohl gelernt &#x017F;eyn, und wie ge&#x017F;agt, ihrem<lb/>
Tanzmei&#x017F;ter keine Schande machen. Frau Praat-<lb/>
gern muß &#x017F;ie nur noch nicht affektirt genug fin-<lb/>
den. Charlotte verbeugt &#x017F;ich, und Frau Praat-<lb/>
gern will, &#x017F;ie &#x017F;oll &#x017F;ich dabey zieren. Das i&#x017F;t der<lb/>
ganze Unter&#x017F;chied, und Madame Lo&#x0364;wen be-<lb/>
merkte ihn &#x017F;ehr wohl, ob ich gleich nicht glaube,<lb/>
daß die Praatgern &#x017F;on&#x017F;t eine Rolle fu&#x0364;r &#x017F;ie i&#x017F;t. Sie<lb/>
kann die feine Frau zu wenig verbergen, und<lb/>
gewi&#x017F;&#x017F;en Ge&#x017F;ichtern wollen nichtswu&#x0364;rdige Hand-<lb/>
lungen, dergleichung die Vertau&#x017F;chung einer<lb/>
Tochter i&#x017F;t, durchaus nicht la&#x017F;&#x017F;en.</p><lb/>
        <p>Den eilften Abend (Mittewochs, den 6ten<lb/>
May,) ward Miß Sara Samp&#x017F;on aufgefu&#x0364;hret.</p><lb/>
        <p>Man kann von der Kun&#x017F;t nichts mehr verlan-<lb/>
gen, als was Madame Hen&#x017F;eln in der Rolle der<lb/>
Sara lei&#x017F;tet, und das Stu&#x0364;ck ward u&#x0364;berhaupt<lb/>
&#x017F;ehr gut ge&#x017F;pielet. Es i&#x017F;t ein wenig zu lang,<lb/>
und man verku&#x0364;rzt es daher auf den mei&#x017F;ten Thea-<lb/>
tern. Ob der Verfa&#x017F;&#x017F;er mit allen die&#x017F;en Ver-<lb/>
ku&#x0364;rzungen &#x017F;o recht zufrieden i&#x017F;t, daran zweifle<lb/>
ich fa&#x017F;t. Man weiß ja, wie die Autores &#x017F;ind;<lb/>
wenn man ihnen auch nur einen Niednagel neh-<lb/>
men will, &#x017F;o &#x017F;chreyen &#x017F;ie gleich: Ihr kommt mir<lb/>
ans Leben! Freylich i&#x017F;t der u&#x0364;berma&#x0364;ßigen La&#x0364;nge<lb/>
eines Stu&#x0364;cks, durch das bloße Wegla&#x017F;&#x017F;en, nur<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">u&#x0364;bel</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[103/0117] Dieſe Zeilen verſteht man ganz falſch, wenn man Charlotten eine baͤuriſche Neige, einen dummen Knix machen laͤßt. Ihre Verbeugung muß wohl gelernt ſeyn, und wie geſagt, ihrem Tanzmeiſter keine Schande machen. Frau Praat- gern muß ſie nur noch nicht affektirt genug fin- den. Charlotte verbeugt ſich, und Frau Praat- gern will, ſie ſoll ſich dabey zieren. Das iſt der ganze Unterſchied, und Madame Loͤwen be- merkte ihn ſehr wohl, ob ich gleich nicht glaube, daß die Praatgern ſonſt eine Rolle fuͤr ſie iſt. Sie kann die feine Frau zu wenig verbergen, und gewiſſen Geſichtern wollen nichtswuͤrdige Hand- lungen, dergleichung die Vertauſchung einer Tochter iſt, durchaus nicht laſſen. Den eilften Abend (Mittewochs, den 6ten May,) ward Miß Sara Sampſon aufgefuͤhret. Man kann von der Kunſt nichts mehr verlan- gen, als was Madame Henſeln in der Rolle der Sara leiſtet, und das Stuͤck ward uͤberhaupt ſehr gut geſpielet. Es iſt ein wenig zu lang, und man verkuͤrzt es daher auf den meiſten Thea- tern. Ob der Verfaſſer mit allen dieſen Ver- kuͤrzungen ſo recht zufrieden iſt, daran zweifle ich faſt. Man weiß ja, wie die Autores ſind; wenn man ihnen auch nur einen Niednagel neh- men will, ſo ſchreyen ſie gleich: Ihr kommt mir ans Leben! Freylich iſt der uͤbermaͤßigen Laͤnge eines Stuͤcks, durch das bloße Weglaſſen, nur uͤbel

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/117
Zitationshilfe: [Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769], S. 103. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/117>, abgerufen am 28.03.2024.