Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769].

Bild:
<< vorherige Seite

legen zu lassen: heißt ihn und seinen Beruff ver-
kennen, heißt von dem, dem man diese Verken-
nung nicht zutrauen kann, mit einem Worte,
chicaniren.

Zwar bey dem Herrn von Voltaire könnte es
leicht weder Verkennung noch Chicane seyn.
Denn Voltaire ist selbst ein tragischer Dichter,
und ohnstreitig ein weit größerer, als der jüngere
Corneille. Es wäre denn, daß man ein Mei-
ster in einer Kunst seyn, und doch falsche Begriffe
von der Kunst haben könnte. Und was die Chi-
cane anbelangt, die ist, wie die ganze Welt
weiß, sein Werk nun gar nicht. Was ihr in
seinen Schriften hier und da ähnlich sieht, ist
nichts als Laune; aus bloßer Laune spielt er
dann und wann in der Poetik den Historikus,
in der Historie den Philosophen, und in der Phi-
losophie den witzigen Kopf.

Sollte er umsonst wissen, daß Elisabeth acht
und sechzig Jahr alt war, als sie den Grafen
köpfen ließ? Im acht und sechzigsten Jahre noch
verliebt, noch eifersüchtig! Die große Nase der
Elisabeth dazu genommen, was für lustige Ein-
fälle muß das geben! Freylich stehen diese lusti-
gen Einfälle in dem Commentare über eine Tra-
gödie; also da, wo sie nicht hingehören. Der
Dichter hätte Recht zu seinem Commentator zu
sagen: "Mein Herr Notenmacher, diese Schwänke
gehören in eure allgemeine Geschichte, nicht un-

ter

legen zu laſſen: heißt ihn und ſeinen Beruff ver-
kennen, heißt von dem, dem man dieſe Verken-
nung nicht zutrauen kann, mit einem Worte,
chicaniren.

Zwar bey dem Herrn von Voltaire koͤnnte es
leicht weder Verkennung noch Chicane ſeyn.
Denn Voltaire iſt ſelbſt ein tragiſcher Dichter,
und ohnſtreitig ein weit groͤßerer, als der juͤngere
Corneille. Es waͤre denn, daß man ein Mei-
ſter in einer Kunſt ſeyn, und doch falſche Begriffe
von der Kunſt haben koͤnnte. Und was die Chi-
cane anbelangt, die iſt, wie die ganze Welt
weiß, ſein Werk nun gar nicht. Was ihr in
ſeinen Schriften hier und da aͤhnlich ſieht, iſt
nichts als Laune; aus bloßer Laune ſpielt er
dann und wann in der Poetik den Hiſtorikus,
in der Hiſtorie den Philoſophen, und in der Phi-
loſophie den witzigen Kopf.

Sollte er umſonſt wiſſen, daß Eliſabeth acht
und ſechzig Jahr alt war, als ſie den Grafen
koͤpfen ließ? Im acht und ſechzigſten Jahre noch
verliebt, noch eiferſuͤchtig! Die große Naſe der
Eliſabeth dazu genommen, was fuͤr luſtige Ein-
faͤlle muß das geben! Freylich ſtehen dieſe luſti-
gen Einfaͤlle in dem Commentare uͤber eine Tra-
goͤdie; alſo da, wo ſie nicht hingehoͤren. Der
Dichter haͤtte Recht zu ſeinem Commentator zu
ſagen: 〟Mein Herr Notenmacher, dieſe Schwaͤnke
gehoͤren in eure allgemeine Geſchichte, nicht un-

ter
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0200" n="186"/>
legen zu la&#x017F;&#x017F;en: heißt ihn und &#x017F;einen Beruff ver-<lb/>
kennen, heißt von dem, dem man die&#x017F;e Verken-<lb/>
nung nicht zutrauen kann, mit einem Worte,<lb/>
chicaniren.</p><lb/>
        <p>Zwar bey dem Herrn von Voltaire ko&#x0364;nnte es<lb/>
leicht weder Verkennung noch Chicane &#x017F;eyn.<lb/>
Denn Voltaire i&#x017F;t &#x017F;elb&#x017F;t ein tragi&#x017F;cher Dichter,<lb/>
und ohn&#x017F;treitig ein weit gro&#x0364;ßerer, als der ju&#x0364;ngere<lb/>
Corneille. Es wa&#x0364;re denn, daß man ein Mei-<lb/>
&#x017F;ter in einer Kun&#x017F;t &#x017F;eyn, und doch fal&#x017F;che Begriffe<lb/>
von der Kun&#x017F;t haben ko&#x0364;nnte. Und was die Chi-<lb/>
cane anbelangt, die i&#x017F;t, wie die ganze Welt<lb/>
weiß, &#x017F;ein Werk nun gar nicht. Was ihr in<lb/>
&#x017F;einen Schriften hier und da a&#x0364;hnlich &#x017F;ieht, i&#x017F;t<lb/>
nichts als Laune; aus bloßer Laune &#x017F;pielt er<lb/>
dann und wann in der Poetik den Hi&#x017F;torikus,<lb/>
in der Hi&#x017F;torie den Philo&#x017F;ophen, und in der Phi-<lb/>
lo&#x017F;ophie den witzigen Kopf.</p><lb/>
        <p>Sollte er um&#x017F;on&#x017F;t wi&#x017F;&#x017F;en, daß Eli&#x017F;abeth acht<lb/>
und &#x017F;echzig Jahr alt war, als &#x017F;ie den Grafen<lb/>
ko&#x0364;pfen ließ? Im acht und &#x017F;echzig&#x017F;ten Jahre noch<lb/>
verliebt, noch eifer&#x017F;u&#x0364;chtig! Die große Na&#x017F;e der<lb/>
Eli&#x017F;abeth dazu genommen, was fu&#x0364;r lu&#x017F;tige Ein-<lb/>
fa&#x0364;lle muß das geben! Freylich &#x017F;tehen die&#x017F;e lu&#x017F;ti-<lb/>
gen Einfa&#x0364;lle in dem Commentare u&#x0364;ber eine Tra-<lb/>
go&#x0364;die; al&#x017F;o da, wo &#x017F;ie nicht hingeho&#x0364;ren. Der<lb/>
Dichter ha&#x0364;tte Recht zu &#x017F;einem Commentator zu<lb/>
&#x017F;agen: &#x301F;Mein Herr Notenmacher, die&#x017F;e Schwa&#x0364;nke<lb/>
geho&#x0364;ren in eure allgemeine Ge&#x017F;chichte, nicht un-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">ter</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[186/0200] legen zu laſſen: heißt ihn und ſeinen Beruff ver- kennen, heißt von dem, dem man dieſe Verken- nung nicht zutrauen kann, mit einem Worte, chicaniren. Zwar bey dem Herrn von Voltaire koͤnnte es leicht weder Verkennung noch Chicane ſeyn. Denn Voltaire iſt ſelbſt ein tragiſcher Dichter, und ohnſtreitig ein weit groͤßerer, als der juͤngere Corneille. Es waͤre denn, daß man ein Mei- ſter in einer Kunſt ſeyn, und doch falſche Begriffe von der Kunſt haben koͤnnte. Und was die Chi- cane anbelangt, die iſt, wie die ganze Welt weiß, ſein Werk nun gar nicht. Was ihr in ſeinen Schriften hier und da aͤhnlich ſieht, iſt nichts als Laune; aus bloßer Laune ſpielt er dann und wann in der Poetik den Hiſtorikus, in der Hiſtorie den Philoſophen, und in der Phi- loſophie den witzigen Kopf. Sollte er umſonſt wiſſen, daß Eliſabeth acht und ſechzig Jahr alt war, als ſie den Grafen koͤpfen ließ? Im acht und ſechzigſten Jahre noch verliebt, noch eiferſuͤchtig! Die große Naſe der Eliſabeth dazu genommen, was fuͤr luſtige Ein- faͤlle muß das geben! Freylich ſtehen dieſe luſti- gen Einfaͤlle in dem Commentare uͤber eine Tra- goͤdie; alſo da, wo ſie nicht hingehoͤren. Der Dichter haͤtte Recht zu ſeinem Commentator zu ſagen: 〟Mein Herr Notenmacher, dieſe Schwaͤnke gehoͤren in eure allgemeine Geſchichte, nicht un- ter

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/200
Zitationshilfe: [Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769], S. 186. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/200>, abgerufen am 29.03.2024.