Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769].

Bild:
<< vorherige Seite

was der Dichter unterlassen hat, und ein Allegro aus
dem E moll, mit der nehmlichen Instrumentenbe-
setzung des vorhergehenden, nur daß E-Hörner mit
G-Hörnern verschiedentlich abwechseln, schildert kein
stummes und träges Erstaunen, sondern die wahre
wilde Bestürzung, welche eine dergleichen Erscheinung
unter dem Volke verursachen muß.

Die Beängstigung der Semiramis im vierten
Aufzuge erweckt unser Mitleid; wir betauern die
Reuende, so schuldig wir auch die Verbrecherinn
wissen. Betauern und Mitleid läßt also auch die
Musik ertönen; in einem Larghetto aus dem A moll,
mit gedämpften Violinen und Bratsche, und einer
concertirenden Hoboe.

Endlich folget auch auf den fünften Akt nur ein
einziger Satz, ein Adagio, aus dem E dur, nächst
den Violinen und der Bratsche, mit Hörnern, mit
verstärkenden Hoboen und Flöten, und mit Fagotten,
die mit dem Grundbasse gehen. Der Ausdruck ist
den Personen des Trauerspiels angemessene, und ins
Erhabene gezogene Betrübniß, mit einiger Rück-
sicht, wie mich deucht, auf die vier letzten Zeilen,
in welchen die Wahrheit ihre warnende Stimme
gegen die Großen der Erde eben so würdig als mäch-
tig erhebt.

Die Absichten eines Tonkünstlers merken, heißt ihm
zugestehen, daß er sie erreicht hat. Sein Werk soll kein
Räthsel seyn, dessen Deutung eben so mühsam als
schwankend ist. Was ein gesundes Ohr am geschwinde-
sten in ihm vernimt, das und nichts anders hat er sa-
gen wollen; sein Lob wächst mit seiner Verständlichkeit;
je leichter, je allgemeiner diese, desto verdienter je-
nes. -- Es ist kein Ruhm für mich, daß ich recht gehört
habe; aber für den Hrn. Agricola ist es ein so viel grös-
serer, daß in dieser seine Composition niemand etwas
anders gehört hat, als ich.

Ham-

was der Dichter unterlaſſen hat, und ein Allegro aus
dem E moll, mit der nehmlichen Inſtrumentenbe-
ſetzung des vorhergehenden, nur daß E-Hoͤrner mit
G-Hoͤrnern verſchiedentlich abwechſeln, ſchildert kein
ſtummes und traͤges Erſtaunen, ſondern die wahre
wilde Beſtuͤrzung, welche eine dergleichen Erſcheinung
unter dem Volke verurſachen muß.

Die Beaͤngſtigung der Semiramis im vierten
Aufzuge erweckt unſer Mitleid; wir betauern die
Reuende, ſo ſchuldig wir auch die Verbrecherinn
wiſſen. Betauern und Mitleid laͤßt alſo auch die
Muſik ertoͤnen; in einem Larghetto aus dem A moll,
mit gedaͤmpften Violinen und Bratſche, und einer
concertirenden Hoboe.

Endlich folget auch auf den fuͤnften Akt nur ein
einziger Satz, ein Adagio, aus dem E dur, naͤchſt
den Violinen und der Bratſche, mit Hoͤrnern, mit
verſtaͤrkenden Hoboen und Floͤten, und mit Fagotten,
die mit dem Grundbaſſe gehen. Der Ausdruck iſt
den Perſonen des Trauerſpiels angemeſſene, und ins
Erhabene gezogene Betruͤbniß, mit einiger Ruͤck-
ſicht, wie mich deucht, auf die vier letzten Zeilen,
in welchen die Wahrheit ihre warnende Stimme
gegen die Großen der Erde eben ſo wuͤrdig als maͤch-
tig erhebt.

Die Abſichten eines Tonkuͤnſtlers merken, heißt ihm
zugeſtehen, daß er ſie erreicht hat. Sein Werk ſoll kein
Raͤthſel ſeyn, deſſen Deutung eben ſo muͤhſam als
ſchwankend iſt. Was ein geſundes Ohr am geſchwinde-
ſten in ihm vernimt, das und nichts anders hat er ſa-
gen wollen; ſein Lob waͤchſt mit ſeiner Verſtaͤndlichkeit;
je leichter, je allgemeiner dieſe, deſto verdienter je-
nes. — Es iſt kein Ruhm fuͤr mich, daß ich recht gehoͤrt
habe; aber fuͤr den Hrn. Agricola iſt es ein ſo viel groͤſ-
ſerer, daß in dieſer ſeine Compoſition niemand etwas
anders gehoͤrt hat, als ich.

Ham-
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0230" n="216"/>
was der Dichter unterla&#x017F;&#x017F;en hat, und ein Allegro aus<lb/>
dem E moll, mit der nehmlichen In&#x017F;trumentenbe-<lb/>
&#x017F;etzung des vorhergehenden, nur daß E-Ho&#x0364;rner mit<lb/>
G-Ho&#x0364;rnern ver&#x017F;chiedentlich abwech&#x017F;eln, &#x017F;childert kein<lb/>
&#x017F;tummes und tra&#x0364;ges Er&#x017F;taunen, &#x017F;ondern die wahre<lb/>
wilde Be&#x017F;tu&#x0364;rzung, welche eine dergleichen Er&#x017F;cheinung<lb/>
unter dem Volke verur&#x017F;achen muß.</p><lb/>
        <p>Die Bea&#x0364;ng&#x017F;tigung der Semiramis im vierten<lb/>
Aufzuge erweckt un&#x017F;er Mitleid; wir betauern die<lb/>
Reuende, &#x017F;o &#x017F;chuldig wir auch die Verbrecherinn<lb/>
wi&#x017F;&#x017F;en. Betauern und Mitleid la&#x0364;ßt al&#x017F;o auch die<lb/>
Mu&#x017F;ik erto&#x0364;nen; in einem Larghetto aus dem A moll,<lb/>
mit geda&#x0364;mpften Violinen und Brat&#x017F;che, und einer<lb/>
concertirenden Hoboe.</p><lb/>
        <p>Endlich folget auch auf den fu&#x0364;nften Akt nur ein<lb/>
einziger Satz, ein Adagio, aus dem E dur, na&#x0364;ch&#x017F;t<lb/>
den Violinen und der Brat&#x017F;che, mit Ho&#x0364;rnern, mit<lb/>
ver&#x017F;ta&#x0364;rkenden Hoboen und Flo&#x0364;ten, und mit Fagotten,<lb/>
die mit dem Grundba&#x017F;&#x017F;e gehen. Der Ausdruck i&#x017F;t<lb/>
den Per&#x017F;onen des Trauer&#x017F;piels angeme&#x017F;&#x017F;ene, und ins<lb/>
Erhabene gezogene Betru&#x0364;bniß, mit einiger Ru&#x0364;ck-<lb/>
&#x017F;icht, wie mich deucht, auf die vier letzten Zeilen,<lb/>
in welchen die Wahrheit ihre warnende Stimme<lb/>
gegen die Großen der Erde eben &#x017F;o wu&#x0364;rdig als ma&#x0364;ch-<lb/>
tig erhebt.</p><lb/>
        <p>Die Ab&#x017F;ichten eines Tonku&#x0364;n&#x017F;tlers merken, heißt ihm<lb/>
zuge&#x017F;tehen, daß er &#x017F;ie erreicht hat. Sein Werk &#x017F;oll kein<lb/>
Ra&#x0364;th&#x017F;el &#x017F;eyn, de&#x017F;&#x017F;en Deutung eben &#x017F;o mu&#x0364;h&#x017F;am als<lb/>
&#x017F;chwankend i&#x017F;t. Was ein ge&#x017F;undes Ohr am ge&#x017F;chwinde-<lb/>
&#x017F;ten in ihm vernimt, das und nichts anders hat er &#x017F;a-<lb/>
gen wollen; &#x017F;ein Lob wa&#x0364;ch&#x017F;t mit &#x017F;einer Ver&#x017F;ta&#x0364;ndlichkeit;<lb/>
je leichter, je allgemeiner die&#x017F;e, de&#x017F;to verdienter je-<lb/>
nes. &#x2014; Es i&#x017F;t kein Ruhm fu&#x0364;r mich, daß ich recht geho&#x0364;rt<lb/>
habe; aber fu&#x0364;r den Hrn. Agricola i&#x017F;t es ein &#x017F;o viel gro&#x0364;&#x017F;-<lb/>
&#x017F;erer, daß in die&#x017F;er &#x017F;eine Compo&#x017F;ition niemand etwas<lb/>
anders geho&#x0364;rt hat, als ich.</p>
      </div><lb/>
      <fw place="bottom" type="catch"> <hi rendition="#b">Ham-</hi> </fw><lb/>
    </body>
  </text>
</TEI>
[216/0230] was der Dichter unterlaſſen hat, und ein Allegro aus dem E moll, mit der nehmlichen Inſtrumentenbe- ſetzung des vorhergehenden, nur daß E-Hoͤrner mit G-Hoͤrnern verſchiedentlich abwechſeln, ſchildert kein ſtummes und traͤges Erſtaunen, ſondern die wahre wilde Beſtuͤrzung, welche eine dergleichen Erſcheinung unter dem Volke verurſachen muß. Die Beaͤngſtigung der Semiramis im vierten Aufzuge erweckt unſer Mitleid; wir betauern die Reuende, ſo ſchuldig wir auch die Verbrecherinn wiſſen. Betauern und Mitleid laͤßt alſo auch die Muſik ertoͤnen; in einem Larghetto aus dem A moll, mit gedaͤmpften Violinen und Bratſche, und einer concertirenden Hoboe. Endlich folget auch auf den fuͤnften Akt nur ein einziger Satz, ein Adagio, aus dem E dur, naͤchſt den Violinen und der Bratſche, mit Hoͤrnern, mit verſtaͤrkenden Hoboen und Floͤten, und mit Fagotten, die mit dem Grundbaſſe gehen. Der Ausdruck iſt den Perſonen des Trauerſpiels angemeſſene, und ins Erhabene gezogene Betruͤbniß, mit einiger Ruͤck- ſicht, wie mich deucht, auf die vier letzten Zeilen, in welchen die Wahrheit ihre warnende Stimme gegen die Großen der Erde eben ſo wuͤrdig als maͤch- tig erhebt. Die Abſichten eines Tonkuͤnſtlers merken, heißt ihm zugeſtehen, daß er ſie erreicht hat. Sein Werk ſoll kein Raͤthſel ſeyn, deſſen Deutung eben ſo muͤhſam als ſchwankend iſt. Was ein geſundes Ohr am geſchwinde- ſten in ihm vernimt, das und nichts anders hat er ſa- gen wollen; ſein Lob waͤchſt mit ſeiner Verſtaͤndlichkeit; je leichter, je allgemeiner dieſe, deſto verdienter je- nes. — Es iſt kein Ruhm fuͤr mich, daß ich recht gehoͤrt habe; aber fuͤr den Hrn. Agricola iſt es ein ſo viel groͤſ- ſerer, daß in dieſer ſeine Compoſition niemand etwas anders gehoͤrt hat, als ich. Ham-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/230
Zitationshilfe: [Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769], S. 216. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/230>, abgerufen am 19.04.2024.