Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769].

Bild:
<< vorherige Seite

daß sie weiter nichts als eine Erdichtung ist, in-
dem sie sich bloß auf das Vorgeben gründet, daß
Diana die Iphigenia in einer Wolke von dem
Altare, auf welchem sie geopfert werden sollte,
entrückt, und ein Reh an ihrer Stelle unterge-
schoben habe. Vornehmlich aber verdient die
Helena des Euripides bemerkt zu werden, wo
sowohl die Haupthandlung, als die Episoden,
sowohl der Knoten, als die Auflösung, gänzlich
erdichtet sind, und aus der Historie nichts als
die Namen haben."

Allerdings durfte Corneille mit den histori-
schen Umständen nach Gutdünken verfahren.
Er durfte, z. E. Rodogunen so jung annehmen,
als er wollte; und Voltaire hat sehr Unrecht,
wenn er auch hier wiederum aus der Geschichte
nachrechnet, daß Rodogune so jung nicht könne
gewesen seyn; sie habe den Demetrius geheyra-
thet, als die beiden Prinzen, die itzt doch wenig-
stens zwanzig Jahre haben müßten, noch in ihrer
Kindheit gewesen wären. Was geht das dem
Dichter an? Seine Rodogune hat den Deme-
trius gar nicht geheyrathet; sie war sehr jung,
als sie der Vater heyrathen wollte, und nicht viel
älter, als sich die Söhne in sie verliebten. Vol-
taire ist mit seiner historischen Controlle ganz un-
leidlich. Wenn er doch lieber die Data in seiner all-
gemeinen Weltgeschichte dafür verificiren wollte!

Ham-

daß ſie weiter nichts als eine Erdichtung iſt, in-
dem ſie ſich bloß auf das Vorgeben gruͤndet, daß
Diana die Iphigenia in einer Wolke von dem
Altare, auf welchem ſie geopfert werden ſollte,
entruͤckt, und ein Reh an ihrer Stelle unterge-
ſchoben habe. Vornehmlich aber verdient die
Helena des Euripides bemerkt zu werden, wo
ſowohl die Haupthandlung, als die Epiſoden,
ſowohl der Knoten, als die Aufloͤſung, gaͤnzlich
erdichtet ſind, und aus der Hiſtorie nichts als
die Namen haben.〟

Allerdings durfte Corneille mit den hiſtori-
ſchen Umſtaͤnden nach Gutduͤnken verfahren.
Er durfte, z. E. Rodogunen ſo jung annehmen,
als er wollte; und Voltaire hat ſehr Unrecht,
wenn er auch hier wiederum aus der Geſchichte
nachrechnet, daß Rodogune ſo jung nicht koͤnne
geweſen ſeyn; ſie habe den Demetrius geheyra-
thet, als die beiden Prinzen, die itzt doch wenig-
ſtens zwanzig Jahre haben muͤßten, noch in ihrer
Kindheit geweſen waͤren. Was geht das dem
Dichter an? Seine Rodogune hat den Deme-
trius gar nicht geheyrathet; ſie war ſehr jung,
als ſie der Vater heyrathen wollte, und nicht viel
aͤlter, als ſich die Soͤhne in ſie verliebten. Vol-
taire iſt mit ſeiner hiſtoriſchen Controlle ganz un-
leidlich. Wenn er doch lieber die Data in ſeiner all-
gemeinen Weltgeſchichte dafuͤr verificiren wollte!

Ham-
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p>
          <cit>
            <quote><pb facs="#f0262" n="248"/>
daß &#x017F;ie weiter nichts als eine Erdichtung i&#x017F;t, in-<lb/>
dem &#x017F;ie &#x017F;ich bloß auf das Vorgeben gru&#x0364;ndet, daß<lb/>
Diana die Iphigenia in einer Wolke von dem<lb/>
Altare, auf welchem &#x017F;ie geopfert werden &#x017F;ollte,<lb/>
entru&#x0364;ckt, und ein Reh an ihrer Stelle unterge-<lb/>
&#x017F;choben habe. Vornehmlich aber verdient die<lb/>
Helena des Euripides bemerkt zu werden, wo<lb/>
&#x017F;owohl die Haupthandlung, als die Epi&#x017F;oden,<lb/>
&#x017F;owohl der Knoten, als die Auflo&#x0364;&#x017F;ung, ga&#x0364;nzlich<lb/>
erdichtet &#x017F;ind, und aus der Hi&#x017F;torie nichts als<lb/>
die Namen haben.&#x301F;</quote>
          </cit>
        </p><lb/>
        <p>Allerdings durfte Corneille mit den hi&#x017F;tori-<lb/>
&#x017F;chen Um&#x017F;ta&#x0364;nden nach Gutdu&#x0364;nken verfahren.<lb/>
Er durfte, z. E. Rodogunen &#x017F;o jung annehmen,<lb/>
als er wollte; und Voltaire hat &#x017F;ehr Unrecht,<lb/>
wenn er auch hier wiederum aus der Ge&#x017F;chichte<lb/>
nachrechnet, daß Rodogune &#x017F;o jung nicht ko&#x0364;nne<lb/>
gewe&#x017F;en &#x017F;eyn; &#x017F;ie habe den Demetrius geheyra-<lb/>
thet, als die beiden Prinzen, die itzt doch wenig-<lb/>
&#x017F;tens zwanzig Jahre haben mu&#x0364;ßten, noch in ihrer<lb/>
Kindheit gewe&#x017F;en wa&#x0364;ren. Was geht das dem<lb/>
Dichter an? Seine Rodogune hat den Deme-<lb/>
trius gar nicht geheyrathet; &#x017F;ie war &#x017F;ehr jung,<lb/>
als &#x017F;ie der Vater heyrathen wollte, und nicht viel<lb/>
a&#x0364;lter, als &#x017F;ich die So&#x0364;hne in &#x017F;ie verliebten. Vol-<lb/>
taire i&#x017F;t mit &#x017F;einer hi&#x017F;tori&#x017F;chen Controlle ganz un-<lb/>
leidlich. Wenn er doch lieber die Data in &#x017F;einer all-<lb/>
gemeinen Weltge&#x017F;chichte dafu&#x0364;r verificiren wollte!</p>
      </div><lb/>
      <fw place="bottom" type="catch"> <hi rendition="#b">Ham-</hi> </fw><lb/>
    </body>
  </text>
</TEI>
[248/0262] daß ſie weiter nichts als eine Erdichtung iſt, in- dem ſie ſich bloß auf das Vorgeben gruͤndet, daß Diana die Iphigenia in einer Wolke von dem Altare, auf welchem ſie geopfert werden ſollte, entruͤckt, und ein Reh an ihrer Stelle unterge- ſchoben habe. Vornehmlich aber verdient die Helena des Euripides bemerkt zu werden, wo ſowohl die Haupthandlung, als die Epiſoden, ſowohl der Knoten, als die Aufloͤſung, gaͤnzlich erdichtet ſind, und aus der Hiſtorie nichts als die Namen haben.〟 Allerdings durfte Corneille mit den hiſtori- ſchen Umſtaͤnden nach Gutduͤnken verfahren. Er durfte, z. E. Rodogunen ſo jung annehmen, als er wollte; und Voltaire hat ſehr Unrecht, wenn er auch hier wiederum aus der Geſchichte nachrechnet, daß Rodogune ſo jung nicht koͤnne geweſen ſeyn; ſie habe den Demetrius geheyra- thet, als die beiden Prinzen, die itzt doch wenig- ſtens zwanzig Jahre haben muͤßten, noch in ihrer Kindheit geweſen waͤren. Was geht das dem Dichter an? Seine Rodogune hat den Deme- trius gar nicht geheyrathet; ſie war ſehr jung, als ſie der Vater heyrathen wollte, und nicht viel aͤlter, als ſich die Soͤhne in ſie verliebten. Vol- taire iſt mit ſeiner hiſtoriſchen Controlle ganz un- leidlich. Wenn er doch lieber die Data in ſeiner all- gemeinen Weltgeſchichte dafuͤr verificiren wollte! Ham-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/262
Zitationshilfe: [Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769], S. 248. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/262>, abgerufen am 29.03.2024.