Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769].

Bild:
<< vorherige Seite

wissen, als insofern es in seinen Kram taugt;
es verstößt also, bald aus Sicherheit bald aus
Stolz, bald mit bald ohne Vorsatz, so oft, so
gröblich, daß wir andern guten Leute uns nicht
genug darüber verwundern können; wir stehen
und staunen und schlagen die Hände zusammen
und rufen: "Aber, wie hat ein so großer Mann
nicht wissen können! -- wie ist es möglich, daß
ihm nicht beyfiel! -- überlegte er denn nicht?"

O, laßt uns ja schweigen; wir glauben ihn zu de-
müthigen, und wir machen uns in seinen Augen
lächerlich; alles, was wir besser wissen, als er,
beweiset blos, daß wir fleißiger zur Schule ge-
gangen, als er; und das hatten wir leider nö-
thig, wenn wir nicht vollkommne Dummköpfe
bleiben wollten.

Marmontels Solimann hätte daher meinet-
wegen immer ein ganz anderer Solimann, und
seine Roxelane eine ganz andere Roxelane seyn
mögen, als mich die Geschichte kennen lehret:
wenn ich nur gefunden hätte, daß, ob sie schon
nicht aus dieser wirklichen Welt sind, sie dennoch
zu einer andern Welt gehören könnten; zu einer
Welt, deren Zufälligkeiten in einer andern Ord-
nung verbunden, aber doch eben so genau ver-
bunden sind, als in dieser; zu einer Welt, in
welcher Ursachen und Wirkungen zwar in einer
andern Reihe folgen, aber doch zu eben der all-
gemeinen Wirkung des Guten abzwecken; kurz,

zu

wiſſen, als inſofern es in ſeinen Kram taugt;
es verſtoͤßt alſo, bald aus Sicherheit bald aus
Stolz, bald mit bald ohne Vorſatz, ſo oft, ſo
groͤblich, daß wir andern guten Leute uns nicht
genug daruͤber verwundern koͤnnen; wir ſtehen
und ſtaunen und ſchlagen die Haͤnde zuſammen
und rufen: 〟Aber, wie hat ein ſo großer Mann
nicht wiſſen koͤnnen! — wie iſt es moͤglich, daß
ihm nicht beyfiel! — uͤberlegte er denn nicht?〟

O, laßt uns ja ſchweigen; wir glauben ihn zu de-
muͤthigen, und wir machen uns in ſeinen Augen
laͤcherlich; alles, was wir beſſer wiſſen, als er,
beweiſet blos, daß wir fleißiger zur Schule ge-
gangen, als er; und das hatten wir leider noͤ-
thig, wenn wir nicht vollkommne Dummkoͤpfe
bleiben wollten.

Marmontels Solimann haͤtte daher meinet-
wegen immer ein ganz anderer Solimann, und
ſeine Roxelane eine ganz andere Roxelane ſeyn
moͤgen, als mich die Geſchichte kennen lehret:
wenn ich nur gefunden haͤtte, daß, ob ſie ſchon
nicht aus dieſer wirklichen Welt ſind, ſie dennoch
zu einer andern Welt gehoͤren koͤnnten; zu einer
Welt, deren Zufaͤlligkeiten in einer andern Ord-
nung verbunden, aber doch eben ſo genau ver-
bunden ſind, als in dieſer; zu einer Welt, in
welcher Urſachen und Wirkungen zwar in einer
andern Reihe folgen, aber doch zu eben der all-
gemeinen Wirkung des Guten abzwecken; kurz,

zu
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0280" n="266"/>
wi&#x017F;&#x017F;en, als in&#x017F;ofern es in &#x017F;einen Kram taugt;<lb/>
es ver&#x017F;to&#x0364;ßt al&#x017F;o, bald aus Sicherheit bald aus<lb/>
Stolz, bald mit bald ohne Vor&#x017F;atz, &#x017F;o oft, &#x017F;o<lb/>
gro&#x0364;blich, daß wir andern guten Leute uns nicht<lb/>
genug daru&#x0364;ber verwundern ko&#x0364;nnen; wir &#x017F;tehen<lb/>
und &#x017F;taunen und &#x017F;chlagen die Ha&#x0364;nde zu&#x017F;ammen<lb/>
und rufen: <cit><quote>&#x301F;Aber, wie hat ein &#x017F;o großer Mann<lb/>
nicht wi&#x017F;&#x017F;en ko&#x0364;nnen! &#x2014; wie i&#x017F;t es mo&#x0364;glich, daß<lb/>
ihm nicht beyfiel! &#x2014; u&#x0364;berlegte er denn nicht?&#x301F;</quote></cit><lb/>
O, laßt uns ja &#x017F;chweigen; wir glauben ihn zu de-<lb/>
mu&#x0364;thigen, und wir machen uns in &#x017F;einen Augen<lb/>
la&#x0364;cherlich; alles, was wir be&#x017F;&#x017F;er wi&#x017F;&#x017F;en, als er,<lb/>
bewei&#x017F;et blos, daß wir fleißiger zur Schule ge-<lb/>
gangen, als er; und das hatten wir leider no&#x0364;-<lb/>
thig, wenn wir nicht vollkommne Dummko&#x0364;pfe<lb/>
bleiben wollten.</p><lb/>
        <p>Marmontels Solimann ha&#x0364;tte daher meinet-<lb/>
wegen immer ein ganz anderer Solimann, und<lb/>
&#x017F;eine Roxelane eine ganz andere Roxelane &#x017F;eyn<lb/>
mo&#x0364;gen, als mich die Ge&#x017F;chichte kennen lehret:<lb/>
wenn ich nur gefunden ha&#x0364;tte, daß, ob &#x017F;ie &#x017F;chon<lb/>
nicht aus die&#x017F;er wirklichen Welt &#x017F;ind, &#x017F;ie dennoch<lb/>
zu einer andern Welt geho&#x0364;ren ko&#x0364;nnten; zu einer<lb/>
Welt, deren Zufa&#x0364;lligkeiten in einer andern Ord-<lb/>
nung verbunden, aber doch eben &#x017F;o genau ver-<lb/>
bunden &#x017F;ind, als in die&#x017F;er; zu einer Welt, in<lb/>
welcher Ur&#x017F;achen und Wirkungen zwar in einer<lb/>
andern Reihe folgen, aber doch zu eben der all-<lb/>
gemeinen Wirkung des Guten abzwecken; kurz,<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">zu</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[266/0280] wiſſen, als inſofern es in ſeinen Kram taugt; es verſtoͤßt alſo, bald aus Sicherheit bald aus Stolz, bald mit bald ohne Vorſatz, ſo oft, ſo groͤblich, daß wir andern guten Leute uns nicht genug daruͤber verwundern koͤnnen; wir ſtehen und ſtaunen und ſchlagen die Haͤnde zuſammen und rufen: 〟Aber, wie hat ein ſo großer Mann nicht wiſſen koͤnnen! — wie iſt es moͤglich, daß ihm nicht beyfiel! — uͤberlegte er denn nicht?〟 O, laßt uns ja ſchweigen; wir glauben ihn zu de- muͤthigen, und wir machen uns in ſeinen Augen laͤcherlich; alles, was wir beſſer wiſſen, als er, beweiſet blos, daß wir fleißiger zur Schule ge- gangen, als er; und das hatten wir leider noͤ- thig, wenn wir nicht vollkommne Dummkoͤpfe bleiben wollten. Marmontels Solimann haͤtte daher meinet- wegen immer ein ganz anderer Solimann, und ſeine Roxelane eine ganz andere Roxelane ſeyn moͤgen, als mich die Geſchichte kennen lehret: wenn ich nur gefunden haͤtte, daß, ob ſie ſchon nicht aus dieſer wirklichen Welt ſind, ſie dennoch zu einer andern Welt gehoͤren koͤnnten; zu einer Welt, deren Zufaͤlligkeiten in einer andern Ord- nung verbunden, aber doch eben ſo genau ver- bunden ſind, als in dieſer; zu einer Welt, in welcher Urſachen und Wirkungen zwar in einer andern Reihe folgen, aber doch zu eben der all- gemeinen Wirkung des Guten abzwecken; kurz, zu

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/280
Zitationshilfe: [Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769], S. 266. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/280>, abgerufen am 23.04.2024.