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[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769].

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glaubte, seiner rechtschaffen und so schönen als gefälli-
gen Gattinn überdrüßig zu seyn, weil sie eine Elmire
und keine Roxelane ist.

Wenn Fehler, die wir adoptiren, unsere eigene Feh-
ler sind, so haben die angeführten französischen Kunst-
richter Recht, daß sie alle das Tadelhafte des Marmon-
telschen Stoffes dem Favart mit zur Last legen. Dieser
scheinet ihnen sogar dabey noch mehr gesündiget zu ha-
ben, als jener. "Die Wahrscheinlichkeit, sagen sie, auf
die es vielleicht in einer Erzehlung so sehr nicht an-
kömmt, ist in einem dramatischen Stücke unumgäng-
lich nöthig; und diese ist in dem gegenwärtigen auf das
äußerste verletzet. Der große Solimann spielet eine
sehr kleine Rolle, u. es ist unangenehm, so einen Helden
nur immer aus so einem Gesichtspunkte zu betrachten.
Der Charakter eines Sultans ist noch mehr verunstal-
tet; da ist auch nicht ein Schatten von der unum-
schränkten Gewalt, vor der alles sich schmiegen muß.
Man hätte diese Gewalt wohl lindern können; nur
ganz vertilgen hätte man sie nicht müssen. Der Cha-
rakter der Roxelane hat wegen seines Spiels gefallen;
aber wenn die Ueberlegung darüber kömmt, wie sieht es
dann mit ihm aus? Ist ihre Rolle im geringsten wahr-
scheinlich? Sie spricht mit dem Sultan, wie mit einem
Pariser Bürger; sie tadelt alle seine Gebräuche; sie
widerspricht in allen seinem Geschmacke, und sagt ihm
sehr harte, nicht selten sehr beleidigende Dinge. Viel-
leicht zwar hätte sie das alles sagen können; wenn sie es
nur mit gemessenern Ansdrücken gesagt hätte. Aber
wer kann es aushalten, den großen Solimann von ei-
ner jungen Landstreicherinn so hofmeistern zu hören?
Er soll sogar die Kunst zu regieren von ihr lernen. Der
Zug mit dem verschmähten Schnupftuche ist hart; und
der mit der weggeworfenen Tabackspfeife ganz uner-
träglich."

Ham-

glaubte, ſeiner rechtſchaffen und ſo ſchoͤnen als gefaͤlli-
gen Gattinn uͤberdruͤßig zu ſeyn, weil ſie eine Elmire
und keine Roxelane iſt.

Wenn Fehler, die wir adoptiren, unſere eigene Feh-
ler ſind, ſo haben die angefuͤhrten franzoͤſiſchen Kunſt-
richter Recht, daß ſie alle das Tadelhafte des Marmon-
telſchen Stoffes dem Favart mit zur Laſt legen. Dieſer
ſcheinet ihnen ſogar dabey noch mehr geſuͤndiget zu ha-
ben, als jener. 〟Die Wahrſcheinlichkeit, ſagen ſie, auf
die es vielleicht in einer Erzehlung ſo ſehr nicht an-
koͤmmt, iſt in einem dramatiſchen Stuͤcke unumgaͤng-
lich noͤthig; und dieſe iſt in dem gegenwaͤrtigen auf das
aͤußerſte verletzet. Der große Solimann ſpielet eine
ſehr kleine Rolle, u. es iſt unangenehm, ſo einen Helden
nur immer aus ſo einem Geſichtspunkte zu betrachten.
Der Charakter eines Sultans iſt noch mehr verunſtal-
tet; da iſt auch nicht ein Schatten von der unum-
ſchraͤnkten Gewalt, vor der alles ſich ſchmiegen muß.
Man haͤtte dieſe Gewalt wohl lindern koͤnnen; nur
ganz vertilgen haͤtte man ſie nicht muͤſſen. Der Cha-
rakter der Roxelane hat wegen ſeines Spiels gefallen;
aber wenn die Ueberlegung daruͤber koͤmmt, wie ſieht es
dann mit ihm aus? Iſt ihre Rolle im geringſten wahr-
ſcheinlich? Sie ſpricht mit dem Sultan, wie mit einem
Pariſer Buͤrger; ſie tadelt alle ſeine Gebraͤuche; ſie
widerſpricht in allen ſeinem Geſchmacke, und ſagt ihm
ſehr harte, nicht ſelten ſehr beleidigende Dinge. Viel-
leicht zwar haͤtte ſie das alles ſagen koͤnnen; wenn ſie es
nur mit gemeſſenern Ansdruͤcken geſagt haͤtte. Aber
wer kann es aushalten, den großen Solimann von ei-
ner jungen Landſtreicherinn ſo hofmeiſtern zu hoͤren?
Er ſoll ſogar die Kunſt zu regieren von ihr lernen. Der
Zug mit dem verſchmaͤhten Schnupftuche iſt hart; und
der mit der weggeworfenen Tabackspfeife ganz uner-
traͤglich.〟

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[272/0286] glaubte, ſeiner rechtſchaffen und ſo ſchoͤnen als gefaͤlli- gen Gattinn uͤberdruͤßig zu ſeyn, weil ſie eine Elmire und keine Roxelane iſt. Wenn Fehler, die wir adoptiren, unſere eigene Feh- ler ſind, ſo haben die angefuͤhrten franzoͤſiſchen Kunſt- richter Recht, daß ſie alle das Tadelhafte des Marmon- telſchen Stoffes dem Favart mit zur Laſt legen. Dieſer ſcheinet ihnen ſogar dabey noch mehr geſuͤndiget zu ha- ben, als jener. 〟Die Wahrſcheinlichkeit, ſagen ſie, auf die es vielleicht in einer Erzehlung ſo ſehr nicht an- koͤmmt, iſt in einem dramatiſchen Stuͤcke unumgaͤng- lich noͤthig; und dieſe iſt in dem gegenwaͤrtigen auf das aͤußerſte verletzet. Der große Solimann ſpielet eine ſehr kleine Rolle, u. es iſt unangenehm, ſo einen Helden nur immer aus ſo einem Geſichtspunkte zu betrachten. Der Charakter eines Sultans iſt noch mehr verunſtal- tet; da iſt auch nicht ein Schatten von der unum- ſchraͤnkten Gewalt, vor der alles ſich ſchmiegen muß. Man haͤtte dieſe Gewalt wohl lindern koͤnnen; nur ganz vertilgen haͤtte man ſie nicht muͤſſen. Der Cha- rakter der Roxelane hat wegen ſeines Spiels gefallen; aber wenn die Ueberlegung daruͤber koͤmmt, wie ſieht es dann mit ihm aus? Iſt ihre Rolle im geringſten wahr- ſcheinlich? Sie ſpricht mit dem Sultan, wie mit einem Pariſer Buͤrger; ſie tadelt alle ſeine Gebraͤuche; ſie widerſpricht in allen ſeinem Geſchmacke, und ſagt ihm ſehr harte, nicht ſelten ſehr beleidigende Dinge. Viel- leicht zwar haͤtte ſie das alles ſagen koͤnnen; wenn ſie es nur mit gemeſſenern Ansdruͤcken geſagt haͤtte. Aber wer kann es aushalten, den großen Solimann von ei- ner jungen Landſtreicherinn ſo hofmeiſtern zu hoͤren? Er ſoll ſogar die Kunſt zu regieren von ihr lernen. Der Zug mit dem verſchmaͤhten Schnupftuche iſt hart; und der mit der weggeworfenen Tabackspfeife ganz uner- traͤglich.〟 Ham-

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Zitationshilfe: [Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769], S. 272. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/286>, abgerufen am 18.04.2024.