Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769].

Bild:
<< vorherige Seite

Ich bekenne, daß mir dieses nicht sehr wahr-
scheinlich scheinet. Eines offenbaren Wider-
spruchs macht sich ein Aristoteles nicht leicht
schuldig. Wo ich dergleichen bey so einem
Manne zu finden glaube, setze ich das größere
Mißtrauen lieber in meinen, als in seinen Ver-
stand. Ich verdoppele meine Aufmerksamkeit,
ich überlese die Stelle zehnmal, und glaube nicht
eher, daß er sich widersprochen, als bis ich aus
dem ganzen Zusammenhange seines Systems er-
sehe, wie und wodurch er zu diesem Widerspruche
verleitet worden. Finde ich nichts, was ihn
dazu verleiten können, was ihm diesen Wider-
spruch gewissermaaßen unvermeidlich machen
müssen, so bin ich überzeugt, daß er nur anschei-
nend ist. Denn sonst würde er dem Verfasser,
der seine Materie so oft überdenken müssen, ge-
wiß am ersten aufgefallen seyn, und nicht mir
ungeübterm Leser, der ich ihn zu meinem Unter-
richte in die Hand nehme. Ich bleibe also
stehen, verfolge den Faden seiner Gedanken
zurück, ponderire ein jedes Wort, und sage mir
immer: Aristoteles kann irren, und hat oft ge-
irret; aber daß er hier etwas behaupten sollte,
wovon er auf der nächsten Seite gerade das Ge-
gentheil behauptet, das kann Aristoteles nicht.
Endlich findet sichs auch.

Doch ohne weitere Umstände; hier ist die Er-
klärung, an welcher Herr Curtius verzweifelt. --

Auf

Ich bekenne, daß mir dieſes nicht ſehr wahr-
ſcheinlich ſcheinet. Eines offenbaren Wider-
ſpruchs macht ſich ein Ariſtoteles nicht leicht
ſchuldig. Wo ich dergleichen bey ſo einem
Manne zu finden glaube, ſetze ich das groͤßere
Mißtrauen lieber in meinen, als in ſeinen Ver-
ſtand. Ich verdoppele meine Aufmerkſamkeit,
ich uͤberleſe die Stelle zehnmal, und glaube nicht
eher, daß er ſich widerſprochen, als bis ich aus
dem ganzen Zuſammenhange ſeines Syſtems er-
ſehe, wie und wodurch er zu dieſem Widerſpruche
verleitet worden. Finde ich nichts, was ihn
dazu verleiten koͤnnen, was ihm dieſen Wider-
ſpruch gewiſſermaaßen unvermeidlich machen
muͤſſen, ſo bin ich uͤberzeugt, daß er nur anſchei-
nend iſt. Denn ſonſt wuͤrde er dem Verfaſſer,
der ſeine Materie ſo oft uͤberdenken muͤſſen, ge-
wiß am erſten aufgefallen ſeyn, und nicht mir
ungeuͤbterm Leſer, der ich ihn zu meinem Unter-
richte in die Hand nehme. Ich bleibe alſo
ſtehen, verfolge den Faden ſeiner Gedanken
zuruͤck, ponderire ein jedes Wort, und ſage mir
immer: Ariſtoteles kann irren, und hat oft ge-
irret; aber daß er hier etwas behaupten ſollte,
wovon er auf der naͤchſten Seite gerade das Ge-
gentheil behauptet, das kann Ariſtoteles nicht.
Endlich findet ſichs auch.

Doch ohne weitere Umſtaͤnde; hier iſt die Er-
klaͤrung, an welcher Herr Curtius verzweifelt. —

Auf
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0312" n="298"/>
        <p>Ich bekenne, daß mir die&#x017F;es nicht &#x017F;ehr wahr-<lb/>
&#x017F;cheinlich &#x017F;cheinet. Eines offenbaren Wider-<lb/>
&#x017F;pruchs macht &#x017F;ich ein Ari&#x017F;toteles nicht leicht<lb/>
&#x017F;chuldig. Wo ich dergleichen bey &#x017F;o einem<lb/>
Manne zu finden glaube, &#x017F;etze ich das gro&#x0364;ßere<lb/>
Mißtrauen lieber in meinen, als in &#x017F;einen Ver-<lb/>
&#x017F;tand. Ich verdoppele meine Aufmerk&#x017F;amkeit,<lb/>
ich u&#x0364;berle&#x017F;e die Stelle zehnmal, und glaube nicht<lb/>
eher, daß er &#x017F;ich wider&#x017F;prochen, als bis ich aus<lb/>
dem ganzen Zu&#x017F;ammenhange &#x017F;eines Sy&#x017F;tems er-<lb/>
&#x017F;ehe, wie und wodurch er zu die&#x017F;em Wider&#x017F;pruche<lb/>
verleitet worden. Finde ich nichts, was ihn<lb/>
dazu verleiten ko&#x0364;nnen, was ihm die&#x017F;en Wider-<lb/>
&#x017F;pruch gewi&#x017F;&#x017F;ermaaßen unvermeidlich machen<lb/>
mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en, &#x017F;o bin ich u&#x0364;berzeugt, daß er nur an&#x017F;chei-<lb/>
nend i&#x017F;t. Denn &#x017F;on&#x017F;t wu&#x0364;rde er dem Verfa&#x017F;&#x017F;er,<lb/>
der &#x017F;eine Materie &#x017F;o oft u&#x0364;berdenken mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en, ge-<lb/>
wiß am er&#x017F;ten aufgefallen &#x017F;eyn, und nicht mir<lb/>
ungeu&#x0364;bterm Le&#x017F;er, der ich ihn zu meinem Unter-<lb/>
richte in die Hand nehme. Ich bleibe al&#x017F;o<lb/>
&#x017F;tehen, verfolge den Faden &#x017F;einer Gedanken<lb/>
zuru&#x0364;ck, ponderire ein jedes Wort, und &#x017F;age mir<lb/>
immer: Ari&#x017F;toteles kann irren, und hat oft ge-<lb/>
irret; aber daß er hier etwas behaupten &#x017F;ollte,<lb/>
wovon er auf der na&#x0364;ch&#x017F;ten Seite gerade das Ge-<lb/>
gentheil behauptet, das kann Ari&#x017F;toteles nicht.<lb/>
Endlich findet &#x017F;ichs auch.</p><lb/>
        <p>Doch ohne weitere Um&#x017F;ta&#x0364;nde; hier i&#x017F;t die Er-<lb/>
kla&#x0364;rung, an welcher Herr Curtius verzweifelt. &#x2014;<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">Auf</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[298/0312] Ich bekenne, daß mir dieſes nicht ſehr wahr- ſcheinlich ſcheinet. Eines offenbaren Wider- ſpruchs macht ſich ein Ariſtoteles nicht leicht ſchuldig. Wo ich dergleichen bey ſo einem Manne zu finden glaube, ſetze ich das groͤßere Mißtrauen lieber in meinen, als in ſeinen Ver- ſtand. Ich verdoppele meine Aufmerkſamkeit, ich uͤberleſe die Stelle zehnmal, und glaube nicht eher, daß er ſich widerſprochen, als bis ich aus dem ganzen Zuſammenhange ſeines Syſtems er- ſehe, wie und wodurch er zu dieſem Widerſpruche verleitet worden. Finde ich nichts, was ihn dazu verleiten koͤnnen, was ihm dieſen Wider- ſpruch gewiſſermaaßen unvermeidlich machen muͤſſen, ſo bin ich uͤberzeugt, daß er nur anſchei- nend iſt. Denn ſonſt wuͤrde er dem Verfaſſer, der ſeine Materie ſo oft uͤberdenken muͤſſen, ge- wiß am erſten aufgefallen ſeyn, und nicht mir ungeuͤbterm Leſer, der ich ihn zu meinem Unter- richte in die Hand nehme. Ich bleibe alſo ſtehen, verfolge den Faden ſeiner Gedanken zuruͤck, ponderire ein jedes Wort, und ſage mir immer: Ariſtoteles kann irren, und hat oft ge- irret; aber daß er hier etwas behaupten ſollte, wovon er auf der naͤchſten Seite gerade das Ge- gentheil behauptet, das kann Ariſtoteles nicht. Endlich findet ſichs auch. Doch ohne weitere Umſtaͤnde; hier iſt die Er- klaͤrung, an welcher Herr Curtius verzweifelt. — Auf

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/312
Zitationshilfe: [Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769], S. 298. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/312>, abgerufen am 29.03.2024.