Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769].

Bild:
<< vorherige Seite
nächste Seite >>

Eingebungen der gegenwärtigen Lage der Sachen
scheinen.

Eben so ausgemacht ist es, daß kein falscher
Accent uns muß argwöhnen lassen, der Akteur
plaudere, was er nicht verstehe. Er muß uns
durch den richtigsten, sichersten Ton überzeugen,
daß er den ganzen Sinn seiner Worte durchdrun-
gen habe.

Aber die richtige Accentuation ist zur Noth
auch einem Papagey beyzubringen. Wie weit
ist der Akteur, der eine Stelle nur versteht, noch
von dem entfernt, der sie auch zugleich empfin-
det! Worte, deren Sinn man einmal gefaßt,
die man sich einmal ins Gedächtniß gepräget hat,
lassen sich sehr richtig hersagen, auch indem sich
die Seele mit ganz andern Dingen beschäftiget;
aber alsdann ist keine Empfindung möglich.
Die Seele muß ganz gegenwärtig seyn; sie muß
ihre Aufmerksamkeit einzig und allein auf ihre
Reden richten, und nur alsdann --

Aber auch alsdann kann der Akteur wirklich
viel Empfindung haben, und doch keine zu ha-
ben scheinen. Die Empfindung ist überhaupt
immer das streitigste unter den Talenten eines
Schauspielers. Sie kann seyn, wo man sie
nicht erkennet; und man kann sie zu erkennen
glauben, wo sie nicht ist. Denn die Empfin-
dung ist etwas Inneres, von dem wir nur nach
seinen äußern Merkmalen urtheilen können.

Nun

Eingebungen der gegenwaͤrtigen Lage der Sachen
ſcheinen.

Eben ſo ausgemacht iſt es, daß kein falſcher
Accent uns muß argwoͤhnen laſſen, der Akteur
plaudere, was er nicht verſtehe. Er muß uns
durch den richtigſten, ſicherſten Ton uͤberzeugen,
daß er den ganzen Sinn ſeiner Worte durchdrun-
gen habe.

Aber die richtige Accentuation iſt zur Noth
auch einem Papagey beyzubringen. Wie weit
iſt der Akteur, der eine Stelle nur verſteht, noch
von dem entfernt, der ſie auch zugleich empfin-
det! Worte, deren Sinn man einmal gefaßt,
die man ſich einmal ins Gedaͤchtniß gepraͤget hat,
laſſen ſich ſehr richtig herſagen, auch indem ſich
die Seele mit ganz andern Dingen beſchaͤftiget;
aber alsdann iſt keine Empfindung moͤglich.
Die Seele muß ganz gegenwaͤrtig ſeyn; ſie muß
ihre Aufmerkſamkeit einzig und allein auf ihre
Reden richten, und nur alsdann —

Aber auch alsdann kann der Akteur wirklich
viel Empfindung haben, und doch keine zu ha-
ben ſcheinen. Die Empfindung iſt uͤberhaupt
immer das ſtreitigſte unter den Talenten eines
Schauſpielers. Sie kann ſeyn, wo man ſie
nicht erkennet; und man kann ſie zu erkennen
glauben, wo ſie nicht iſt. Denn die Empfin-
dung iſt etwas Inneres, von dem wir nur nach
ſeinen aͤußern Merkmalen urtheilen koͤnnen.

Nun
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0032" n="18"/>
Eingebungen der gegenwa&#x0364;rtigen Lage der Sachen<lb/>
&#x017F;cheinen.</p><lb/>
        <p>Eben &#x017F;o ausgemacht i&#x017F;t es, daß kein fal&#x017F;cher<lb/>
Accent uns muß argwo&#x0364;hnen la&#x017F;&#x017F;en, der Akteur<lb/>
plaudere, was er nicht ver&#x017F;tehe. Er muß uns<lb/>
durch den richtig&#x017F;ten, &#x017F;icher&#x017F;ten Ton u&#x0364;berzeugen,<lb/>
daß er den ganzen Sinn &#x017F;einer Worte durchdrun-<lb/>
gen habe.</p><lb/>
        <p>Aber die richtige Accentuation i&#x017F;t zur Noth<lb/>
auch einem Papagey beyzubringen. Wie weit<lb/>
i&#x017F;t der Akteur, der eine Stelle nur ver&#x017F;teht, noch<lb/>
von dem entfernt, der &#x017F;ie auch zugleich empfin-<lb/>
det! Worte, deren Sinn man einmal gefaßt,<lb/>
die man &#x017F;ich einmal ins Geda&#x0364;chtniß gepra&#x0364;get hat,<lb/>
la&#x017F;&#x017F;en &#x017F;ich &#x017F;ehr richtig her&#x017F;agen, auch indem &#x017F;ich<lb/>
die Seele mit ganz andern Dingen be&#x017F;cha&#x0364;ftiget;<lb/>
aber alsdann i&#x017F;t keine Empfindung mo&#x0364;glich.<lb/>
Die Seele muß ganz gegenwa&#x0364;rtig &#x017F;eyn; &#x017F;ie muß<lb/>
ihre Aufmerk&#x017F;amkeit einzig und allein auf ihre<lb/>
Reden richten, und nur alsdann &#x2014;</p><lb/>
        <p>Aber auch alsdann kann der Akteur wirklich<lb/>
viel Empfindung haben, und doch keine zu ha-<lb/>
ben &#x017F;cheinen. Die Empfindung i&#x017F;t u&#x0364;berhaupt<lb/>
immer das &#x017F;treitig&#x017F;te unter den Talenten eines<lb/>
Schau&#x017F;pielers. Sie kann &#x017F;eyn, wo man &#x017F;ie<lb/>
nicht erkennet; und man kann &#x017F;ie zu erkennen<lb/>
glauben, wo &#x017F;ie nicht i&#x017F;t. Denn die Empfin-<lb/>
dung i&#x017F;t etwas Inneres, von dem wir nur nach<lb/>
&#x017F;einen a&#x0364;ußern Merkmalen urtheilen ko&#x0364;nnen.<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">Nun</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[18/0032] Eingebungen der gegenwaͤrtigen Lage der Sachen ſcheinen. Eben ſo ausgemacht iſt es, daß kein falſcher Accent uns muß argwoͤhnen laſſen, der Akteur plaudere, was er nicht verſtehe. Er muß uns durch den richtigſten, ſicherſten Ton uͤberzeugen, daß er den ganzen Sinn ſeiner Worte durchdrun- gen habe. Aber die richtige Accentuation iſt zur Noth auch einem Papagey beyzubringen. Wie weit iſt der Akteur, der eine Stelle nur verſteht, noch von dem entfernt, der ſie auch zugleich empfin- det! Worte, deren Sinn man einmal gefaßt, die man ſich einmal ins Gedaͤchtniß gepraͤget hat, laſſen ſich ſehr richtig herſagen, auch indem ſich die Seele mit ganz andern Dingen beſchaͤftiget; aber alsdann iſt keine Empfindung moͤglich. Die Seele muß ganz gegenwaͤrtig ſeyn; ſie muß ihre Aufmerkſamkeit einzig und allein auf ihre Reden richten, und nur alsdann — Aber auch alsdann kann der Akteur wirklich viel Empfindung haben, und doch keine zu ha- ben ſcheinen. Die Empfindung iſt uͤberhaupt immer das ſtreitigſte unter den Talenten eines Schauſpielers. Sie kann ſeyn, wo man ſie nicht erkennet; und man kann ſie zu erkennen glauben, wo ſie nicht iſt. Denn die Empfin- dung iſt etwas Inneres, von dem wir nur nach ſeinen aͤußern Merkmalen urtheilen koͤnnen. Nun

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/32
Zitationshilfe: [Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769], S. 18. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/32>, abgerufen am 24.04.2024.