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[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769].

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Gelegenheit gefunden hatte, ihren dritten Sohn,
Namens Telephontes, zu einem Gastfreunde in
Aetolien in Sicherheit bringen zu lassen. Je
mehr Telephontes heranwuchs, desto unruhiger
ward Polyphontes. Er konnte sich nichts Gu-
tes von ihm gewärtigen, und versprach also dem-
jenigen eine große Belohnung, der ihn aus dem
Wege räumen würde. Dieses erfuhr Telephon-
tes; und da er sich nunmehr fähig fühlte, seine
Rache zu unternehmen, so machte er sich heimlich
aus Aetolien weg, ging nach Messenien, kam
zu dem Tyrannen, sagte, daß er den Telephon-
tes umgebracht habe, und verlangte die von ihm
dafür ausgesetzte Belohnung. Polyphontes
nahm ihn auf, und befahl, ihn so lange in sei-
nem Pallaste zu bewirthen, bis er ihn weiter aus-
fragen könne. Telephontes ward also in das
Gastzimmer gebracht, wo er vor Müdigkeit ein-
schlief. Indeß kam der alte Diener, welchen
bisher Mutter und Sohn zu ihren wechselseiti-
gen Bothschaften gebraucht, weinend zu Mero-
pen, und meldete ihr, daß Telephontes aus Aeto-
lien weg sey, ohne daß man wisse, wo er hinge-
kommen. Sogleich eilet Merope, der es nicht
unbekannt geblieben, weßen sich der angekom-
mene Fremde rühme, mit einer Axt nach dem
Gastzimmer, und hätte ihn im Schlafe unfehl-
bar umgebracht, wenn nicht der Alte, der ihr
dahin nachgefolgt, den Sohn noch zur rechten
Zeit erkannt, und die Mutter an der Frevelthat

ver-

Gelegenheit gefunden hatte, ihren dritten Sohn,
Namens Telephontes, zu einem Gaſtfreunde in
Aetolien in Sicherheit bringen zu laſſen. Je
mehr Telephontes heranwuchs, deſto unruhiger
ward Polyphontes. Er konnte ſich nichts Gu-
tes von ihm gewaͤrtigen, und verſprach alſo dem-
jenigen eine große Belohnung, der ihn aus dem
Wege raͤumen wuͤrde. Dieſes erfuhr Telephon-
tes; und da er ſich nunmehr faͤhig fuͤhlte, ſeine
Rache zu unternehmen, ſo machte er ſich heimlich
aus Aetolien weg, ging nach Meſſenien, kam
zu dem Tyrannen, ſagte, daß er den Telephon-
tes umgebracht habe, und verlangte die von ihm
dafuͤr ausgeſetzte Belohnung. Polyphontes
nahm ihn auf, und befahl, ihn ſo lange in ſei-
nem Pallaſte zu bewirthen, bis er ihn weiter aus-
fragen koͤnne. Telephontes ward alſo in das
Gaſtzimmer gebracht, wo er vor Muͤdigkeit ein-
ſchlief. Indeß kam der alte Diener, welchen
bisher Mutter und Sohn zu ihren wechſelſeiti-
gen Bothſchaften gebraucht, weinend zu Mero-
pen, und meldete ihr, daß Telephontes aus Aeto-
lien weg ſey, ohne daß man wiſſe, wo er hinge-
kommen. Sogleich eilet Merope, der es nicht
unbekannt geblieben, weßen ſich der angekom-
mene Fremde ruͤhme, mit einer Axt nach dem
Gaſtzimmer, und haͤtte ihn im Schlafe unfehl-
bar umgebracht, wenn nicht der Alte, der ihr
dahin nachgefolgt, den Sohn noch zur rechten
Zeit erkannt, und die Mutter an der Frevelthat

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[314/0328] Gelegenheit gefunden hatte, ihren dritten Sohn, Namens Telephontes, zu einem Gaſtfreunde in Aetolien in Sicherheit bringen zu laſſen. Je mehr Telephontes heranwuchs, deſto unruhiger ward Polyphontes. Er konnte ſich nichts Gu- tes von ihm gewaͤrtigen, und verſprach alſo dem- jenigen eine große Belohnung, der ihn aus dem Wege raͤumen wuͤrde. Dieſes erfuhr Telephon- tes; und da er ſich nunmehr faͤhig fuͤhlte, ſeine Rache zu unternehmen, ſo machte er ſich heimlich aus Aetolien weg, ging nach Meſſenien, kam zu dem Tyrannen, ſagte, daß er den Telephon- tes umgebracht habe, und verlangte die von ihm dafuͤr ausgeſetzte Belohnung. Polyphontes nahm ihn auf, und befahl, ihn ſo lange in ſei- nem Pallaſte zu bewirthen, bis er ihn weiter aus- fragen koͤnne. Telephontes ward alſo in das Gaſtzimmer gebracht, wo er vor Muͤdigkeit ein- ſchlief. Indeß kam der alte Diener, welchen bisher Mutter und Sohn zu ihren wechſelſeiti- gen Bothſchaften gebraucht, weinend zu Mero- pen, und meldete ihr, daß Telephontes aus Aeto- lien weg ſey, ohne daß man wiſſe, wo er hinge- kommen. Sogleich eilet Merope, der es nicht unbekannt geblieben, weßen ſich der angekom- mene Fremde ruͤhme, mit einer Axt nach dem Gaſtzimmer, und haͤtte ihn im Schlafe unfehl- bar umgebracht, wenn nicht der Alte, der ihr dahin nachgefolgt, den Sohn noch zur rechten Zeit erkannt, und die Mutter an der Frevelthat ver-

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Zitationshilfe: [Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769], S. 314. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/328>, abgerufen am 28.03.2024.