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Liebig, Justus von: Die organische Chemie in ihrer Anwendung auf Physiologie und Pathologie. Braunschweig, 1842.

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Der chemische Proceß der

Die neue Wissenschaft der Physiologie hat die Methode
des Aristoteles verlassen, sie erfindet keinen horror vacui,
keine Quinta essentia mehr, um den gläubigen Zuhörern
Aufschlüsse und Erklärungen von Erscheinungen zu geben,
deren eigentlicher Verband mit anderen, deren letzte Ursache
nicht ermittelt ist, zum Heil der Wissenschaft, muß man hin-
zusetzen, und zum Segen für die Menschheit.

Wenn wir festhalten, daß alle Erscheinungen in dem
Organismus der Pflanzen und des Thieres einer ganz ei-
genthümlichen Ursache zugeschrieben werden müssen, welche
in ihren Aeußerungen durchaus verschieden ist von allen an-
deren Ursachen, die Zustandsänderungen oder Bewegungen
bedingen, wenn wir die Lebenskraft also gelten lassen für
eine für sich bestehende Kraft, so haben wir in den Erschei-
nungen des organischen Lebens, wie in allen anderen Er-
scheinungen, welche Kräften zugeschrieben werden müssen,
eine Statik (Zustand des Gleichgewichtes, bedingt durch
einen Widerstand) und eine Dynamik der Lebenskraft.

Alle Theile des Thierkörpers bilden sich aus einer eigen-
thümlichen, in seinem Organismus circulirenden Flüssigkeit,
in Folge einer, jeder Zelle, jedem Organe oder Theile eines
Organs inwohnenden Thätigkeit. Die Physiologie lehrt,
daß alle Bestandtheile des Körpers ursprünglich Blut wa-
ren, oder daß sie wenigstens den entstehenden Organen durch
diese Flüssigkeit zugeführt worden sind.

Die gewöhnlichsten Erfahrungen geben ferner zu erken-
nen, daß in jedem Momente des Lebens in dem Thierorga-

Der chemiſche Proceß der

Die neue Wiſſenſchaft der Phyſiologie hat die Methode
des Ariſtoteles verlaſſen, ſie erfindet keinen horror vacui,
keine Quinta essentia mehr, um den gläubigen Zuhörern
Aufſchlüſſe und Erklärungen von Erſcheinungen zu geben,
deren eigentlicher Verband mit anderen, deren letzte Urſache
nicht ermittelt iſt, zum Heil der Wiſſenſchaft, muß man hin-
zuſetzen, und zum Segen für die Menſchheit.

Wenn wir feſthalten, daß alle Erſcheinungen in dem
Organismus der Pflanzen und des Thieres einer ganz ei-
genthümlichen Urſache zugeſchrieben werden müſſen, welche
in ihren Aeußerungen durchaus verſchieden iſt von allen an-
deren Urſachen, die Zuſtandsänderungen oder Bewegungen
bedingen, wenn wir die Lebenskraft alſo gelten laſſen für
eine für ſich beſtehende Kraft, ſo haben wir in den Erſchei-
nungen des organiſchen Lebens, wie in allen anderen Er-
ſcheinungen, welche Kräften zugeſchrieben werden müſſen,
eine Statik (Zuſtand des Gleichgewichtes, bedingt durch
einen Widerſtand) und eine Dynamik der Lebenskraft.

Alle Theile des Thierkörpers bilden ſich aus einer eigen-
thümlichen, in ſeinem Organismus circulirenden Flüſſigkeit,
in Folge einer, jeder Zelle, jedem Organe oder Theile eines
Organs inwohnenden Thätigkeit. Die Phyſiologie lehrt,
daß alle Beſtandtheile des Körpers urſprünglich Blut wa-
ren, oder daß ſie wenigſtens den entſtehenden Organen durch
dieſe Flüſſigkeit zugeführt worden ſind.

Die gewöhnlichſten Erfahrungen geben ferner zu erken-
nen, daß in jedem Momente des Lebens in dem Thierorga-

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[8/0032] Der chemiſche Proceß der Die neue Wiſſenſchaft der Phyſiologie hat die Methode des Ariſtoteles verlaſſen, ſie erfindet keinen horror vacui, keine Quinta essentia mehr, um den gläubigen Zuhörern Aufſchlüſſe und Erklärungen von Erſcheinungen zu geben, deren eigentlicher Verband mit anderen, deren letzte Urſache nicht ermittelt iſt, zum Heil der Wiſſenſchaft, muß man hin- zuſetzen, und zum Segen für die Menſchheit. Wenn wir feſthalten, daß alle Erſcheinungen in dem Organismus der Pflanzen und des Thieres einer ganz ei- genthümlichen Urſache zugeſchrieben werden müſſen, welche in ihren Aeußerungen durchaus verſchieden iſt von allen an- deren Urſachen, die Zuſtandsänderungen oder Bewegungen bedingen, wenn wir die Lebenskraft alſo gelten laſſen für eine für ſich beſtehende Kraft, ſo haben wir in den Erſchei- nungen des organiſchen Lebens, wie in allen anderen Er- ſcheinungen, welche Kräften zugeſchrieben werden müſſen, eine Statik (Zuſtand des Gleichgewichtes, bedingt durch einen Widerſtand) und eine Dynamik der Lebenskraft. Alle Theile des Thierkörpers bilden ſich aus einer eigen- thümlichen, in ſeinem Organismus circulirenden Flüſſigkeit, in Folge einer, jeder Zelle, jedem Organe oder Theile eines Organs inwohnenden Thätigkeit. Die Phyſiologie lehrt, daß alle Beſtandtheile des Körpers urſprünglich Blut wa- ren, oder daß ſie wenigſtens den entſtehenden Organen durch dieſe Flüſſigkeit zugeführt worden ſind. Die gewöhnlichſten Erfahrungen geben ferner zu erken- nen, daß in jedem Momente des Lebens in dem Thierorga-

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Zitationshilfe: Liebig, Justus von: Die organische Chemie in ihrer Anwendung auf Physiologie und Pathologie. Braunschweig, 1842, S. 8. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/liebig_physiologie_1842/32>, abgerufen am 19.04.2024.