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Liebknecht, Wilhelm: Zur orientalischen Frage oder Soll Europa kosakisch werden? 2. Aufl. Leipzig, 1878.

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zwei beträchtliche Flotten, die eine vom Asow'schen Meere, die andere vom
Hafen von Archangel aus, mit asiatischen Horden bemannt, unter der
Deckung der bewaffneten Flotten des Schwarzen Meeres und der Ostsee
vorrücken. Auf dem Mittelmeer und dem Ozean vorgehend, werden
sie auf der einen Seite Frankreich überschwemmen, während sie auf der
anderen Deutschland angreifen; und wenn diese beiden Länder
überwunden sind, so wird der Rest von Europa leicht
und ohne Verzug unter das Joch sich beugen
.

Auf diese Weise kann und muß Europa unterworfen
werden.



Krieg in Sicht?
("Socialdemokratische Correspondenz" vom 18. Nov. 1877.)
I.

Mitte Juli, als alle Welt glaubte, die Russen würden in wenig
Tagen vor Adrianopel, in wenig Wochen vor Konstantinopel stehen,
herrschte große Erregtheit auf diplomatischem Gebiete; die englische
Regierung nahm nachdrücklich Stellung gegen Rußland und die öster-
reichische Regierung ließ sich sogar in demonstrativer Weise Geld für
eine partielle Mobilmachung bewilligen. Eine Jntervention schien un-
mittelbar bevorstehend und die Plätze am europäischen Schachbrett
waren schon vertheilt: hier England, Frankreich, Oesterreich, die Türkei
-- dort Rußland und dessen "neutraler" Bundesgenosse: das bismarckische
deutsche Reich. Da brach sich plötzlich die russische Jnvasionswoge an
den Erdwällen von Plewna, die russische Eroberungsfluth wurde
"rückläufig" wie die "deutsche Reichsfluth", und mit der Furcht vor
Rußland verschwand auch die Furcht vor einem europäischen Krieg.
So lange das Kriegsglück den Türken lächelte, schien die Gefahr einer
allgemeinen Verwickelung beseitigt: mochten die Völker dort hinten in
der Türkei einander die Schädel einschlagen -- was scherte es uns?
Die "Lokalisirung des Kriegs" galt für eine "vollendete Thatsache", an
der nicht mehr zu rütteln war -- das Börsenvolk schwamm in einem
Meer von Wonne.

Da drehte sich mit einem Mal das Rädchen der Fortuna; der
Kriegsgott, der nach unseres Reichskanzlers weiser Bemerkung "seine
Launen" hat, entzog den Türken seine Gunst, und im Nu verdüsterte
sich wieder der politische Horizont und die alten Befürchtungen sind
wiedergekehrt, und zwar verstärkt wiedergekehrt. Und nicht ohne
Grund.

zwei beträchtliche Flotten, die eine vom Aſow’ſchen Meere, die andere vom
Hafen von Archangel aus, mit aſiatiſchen Horden bemannt, unter der
Deckung der bewaffneten Flotten des Schwarzen Meeres und der Oſtſee
vorrücken. Auf dem Mittelmeer und dem Ozean vorgehend, werden
ſie auf der einen Seite Frankreich überſchwemmen, während ſie auf der
anderen Deutſchland angreifen; und wenn dieſe beiden Länder
überwunden ſind, ſo wird der Reſt von Europa leicht
und ohne Verzug unter das Joch ſich beugen
.

Auf dieſe Weiſe kann und muß Europa unterworfen
werden.



Krieg in Sicht?
(„Socialdemokratiſche Correſpondenz‟ vom 18. Nov. 1877.)
I.

Mitte Juli, als alle Welt glaubte, die Ruſſen würden in wenig
Tagen vor Adrianopel, in wenig Wochen vor Konſtantinopel ſtehen,
herrſchte große Erregtheit auf diplomatiſchem Gebiete; die engliſche
Regierung nahm nachdrücklich Stellung gegen Rußland und die öſter-
reichiſche Regierung ließ ſich ſogar in demonſtrativer Weiſe Geld für
eine partielle Mobilmachung bewilligen. Eine Jntervention ſchien un-
mittelbar bevorſtehend und die Plätze am europäiſchen Schachbrett
waren ſchon vertheilt: hier England, Frankreich, Oeſterreich, die Türkei
dort Rußland und deſſen „neutraler‟ Bundesgenoſſe: das bismarckiſche
deutſche Reich. Da brach ſich plötzlich die ruſſiſche Jnvaſionswoge an
den Erdwällen von Plewna, die ruſſiſche Eroberungsfluth wurde
„rückläufig‟ wie die „deutſche Reichsfluth‟, und mit der Furcht vor
Rußland verſchwand auch die Furcht vor einem europäiſchen Krieg.
So lange das Kriegsglück den Türken lächelte, ſchien die Gefahr einer
allgemeinen Verwickelung beſeitigt: mochten die Völker dort hinten in
der Türkei einander die Schädel einſchlagen — was ſcherte es uns?
Die „Lokaliſirung des Kriegs‟ galt für eine „vollendete Thatſache‟, an
der nicht mehr zu rütteln war — das Börſenvolk ſchwamm in einem
Meer von Wonne.

Da drehte ſich mit einem Mal das Rädchen der Fortuna; der
Kriegsgott, der nach unſeres Reichskanzlers weiſer Bemerkung „ſeine
Launen‟ hat, entzog den Türken ſeine Gunſt, und im Nu verdüſterte
ſich wieder der politiſche Horizont und die alten Befürchtungen ſind
wiedergekehrt, und zwar verſtärkt wiedergekehrt. Und nicht ohne
Grund.

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[21/0025] zwei beträchtliche Flotten, die eine vom Aſow’ſchen Meere, die andere vom Hafen von Archangel aus, mit aſiatiſchen Horden bemannt, unter der Deckung der bewaffneten Flotten des Schwarzen Meeres und der Oſtſee vorrücken. Auf dem Mittelmeer und dem Ozean vorgehend, werden ſie auf der einen Seite Frankreich überſchwemmen, während ſie auf der anderen Deutſchland angreifen; und wenn dieſe beiden Länder überwunden ſind, ſo wird der Reſt von Europa leicht und ohne Verzug unter das Joch ſich beugen. Auf dieſe Weiſe kann und muß Europa unterworfen werden. Krieg in Sicht? („Socialdemokratiſche Correſpondenz‟ vom 18. Nov. 1877.) I. Mitte Juli, als alle Welt glaubte, die Ruſſen würden in wenig Tagen vor Adrianopel, in wenig Wochen vor Konſtantinopel ſtehen, herrſchte große Erregtheit auf diplomatiſchem Gebiete; die engliſche Regierung nahm nachdrücklich Stellung gegen Rußland und die öſter- reichiſche Regierung ließ ſich ſogar in demonſtrativer Weiſe Geld für eine partielle Mobilmachung bewilligen. Eine Jntervention ſchien un- mittelbar bevorſtehend und die Plätze am europäiſchen Schachbrett waren ſchon vertheilt: hier England, Frankreich, Oeſterreich, die Türkei — dort Rußland und deſſen „neutraler‟ Bundesgenoſſe: das bismarckiſche deutſche Reich. Da brach ſich plötzlich die ruſſiſche Jnvaſionswoge an den Erdwällen von Plewna, die ruſſiſche Eroberungsfluth wurde „rückläufig‟ wie die „deutſche Reichsfluth‟, und mit der Furcht vor Rußland verſchwand auch die Furcht vor einem europäiſchen Krieg. So lange das Kriegsglück den Türken lächelte, ſchien die Gefahr einer allgemeinen Verwickelung beſeitigt: mochten die Völker dort hinten in der Türkei einander die Schädel einſchlagen — was ſcherte es uns? Die „Lokaliſirung des Kriegs‟ galt für eine „vollendete Thatſache‟, an der nicht mehr zu rütteln war — das Börſenvolk ſchwamm in einem Meer von Wonne. Da drehte ſich mit einem Mal das Rädchen der Fortuna; der Kriegsgott, der nach unſeres Reichskanzlers weiſer Bemerkung „ſeine Launen‟ hat, entzog den Türken ſeine Gunſt, und im Nu verdüſterte ſich wieder der politiſche Horizont und die alten Befürchtungen ſind wiedergekehrt, und zwar verſtärkt wiedergekehrt. Und nicht ohne Grund.

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Zitationshilfe: Liebknecht, Wilhelm: Zur orientalischen Frage oder Soll Europa kosakisch werden? 2. Aufl. Leipzig, 1878, S. 21. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/liebknecht_frage_1878/25>, abgerufen am 29.03.2024.