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Liebknecht, Wilhelm: Zur orientalischen Frage oder Soll Europa kosakisch werden? 2. Aufl. Leipzig, 1878.

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tärische Ruf Rußlands auf den Schlachtfeldern Armeniens und
der Bulgarei etwa nicht zerstört und begraben worden? Dieses Ruß-
land ist wahrhaftig nicht die Macht, vor der England sich zu beugen
hätte.

Die von uns vorausgesehene nächste Folge des Vorgehens Eng-
lands fängt schon an sich zu vollziehen. Das Schienengeleise des Drei-
kanzlerbundes -- bei Dr. Guido Weiß ist zu erfahren, warum wir
von einem Dreikanzlerbund reden -- ist aufgerissen, und wenn
der kostbare Zug auch noch nicht entgleist ist, so ist der Waggon
Oesterreich doch in bedenkliches Schwanken gerathen und dürfte bald
von dem Reste losgetrennt und auf ein anderes Geleise übergesprungen
sein, während die zwei anderen Waggons auf der alten Bahn weiter
fahren -- wohin? das wissen die Herren Kondukteure so wenig wie
wir. Jn verschiedenen österreichischen, sogar offiziösen Blättern drängt
der Gedanke sich schon vor, jetzt, da England die Jnitiative ergriffen
habe, brauche Oesterreich, das wider seinen Willen bisher
neutral geblieben sei,
(man lese z. B. den "Pester Lloyd")
sich nicht länger vergewaltigen zu lassen und könne seine eigene
Politik treiben,
statt die seiner Feinde. Diese Meinungsäuße-
rungen sind freilich nur "Papierschnitzel", aber "Papierschnitzel",
welche die veränderte Windrichtung verrathen. So viel steht fest, die
von der deutschen Regierung zugestandene Erneuerung des deutsch-
österreichischen Handelsvertrages auf sechs Monate ist für Oesterreich
kein genügender Grund, Rußland und dem Fürsten Bismarck zu Liebe,
einen politischen Selbstmord zu begehen.



Ein Wort an die deutschen Social-Demokraten!
("Socialdemokratische Correspondenz" vom 3. Januar 1878.)
I.

Jmmer bedrohlicher gestaltet sich die Weltlage -- immer bren-
nender wird die Gefahr, daß aus dem russisch-türkischen Krieg ein
europäischer Krieg hervorgehen werde. Die englische Regierung hat
sich endlich zur Aktion aufgerafft, und -- unzweifelhaft im Einver-
ständniß und nach Verabredung mit der Pforte -- die Rolle des
Friedens-Vermittlers übernommen. Da nun Rußland erobern
will, und England entschlossen ist, keine russischen Eroberungen, welche
die Existenz der Türkei und die Jnteressen Englands gefährden, zu
dulden, so läßt sich schwer absehen, wie ein Konflikt zwischen beiden
Mächten vermieden werden kann. Rußland müßte denn noch in letzter

täriſche Ruf Rußlands auf den Schlachtfeldern Armeniens und
der Bulgarei etwa nicht zerſtört und begraben worden? Dieſes Ruß-
land iſt wahrhaftig nicht die Macht, vor der England ſich zu beugen
hätte.

Die von uns vorausgeſehene nächſte Folge des Vorgehens Eng-
lands fängt ſchon an ſich zu vollziehen. Das Schienengeleiſe des Drei-
kanzlerbundes — bei Dr. Guido Weiß iſt zu erfahren, warum wir
von einem Dreikanzlerbund reden — iſt aufgeriſſen, und wenn
der koſtbare Zug auch noch nicht entgleiſt iſt, ſo iſt der Waggon
Oeſterreich doch in bedenkliches Schwanken gerathen und dürfte bald
von dem Reſte losgetrennt und auf ein anderes Geleiſe übergeſprungen
ſein, während die zwei anderen Waggons auf der alten Bahn weiter
fahren — wohin? das wiſſen die Herren Kondukteure ſo wenig wie
wir. Jn verſchiedenen öſterreichiſchen, ſogar offiziöſen Blättern drängt
der Gedanke ſich ſchon vor, jetzt, da England die Jnitiative ergriffen
habe, brauche Oeſterreich, das wider ſeinen Willen bisher
neutral geblieben ſei,
(man leſe z. B. den „Peſter Lloyd‟)
ſich nicht länger vergewaltigen zu laſſen und könne ſeine eigene
Politik treiben,
ſtatt die ſeiner Feinde. Dieſe Meinungsäuße-
rungen ſind freilich nur „Papierſchnitzel‟, aber „Papierſchnitzel‟,
welche die veränderte Windrichtung verrathen. So viel ſteht feſt, die
von der deutſchen Regierung zugeſtandene Erneuerung des deutſch-
öſterreichiſchen Handelsvertrages auf ſechs Monate iſt für Oeſterreich
kein genügender Grund, Rußland und dem Fürſten Bismarck zu Liebe,
einen politiſchen Selbſtmord zu begehen.



Ein Wort an die deutſchen Social-Demokraten!
(„Socialdemokratiſche Correſpondenz‟ vom 3. Januar 1878.)
I.

Jmmer bedrohlicher geſtaltet ſich die Weltlage — immer bren-
nender wird die Gefahr, daß aus dem ruſſiſch-türkiſchen Krieg ein
europäiſcher Krieg hervorgehen werde. Die engliſche Regierung hat
ſich endlich zur Aktion aufgerafft, und — unzweifelhaft im Einver-
ſtändniß und nach Verabredung mit der Pforte — die Rolle des
Friedens-Vermittlers übernommen. Da nun Rußland erobern
will, und England entſchloſſen iſt, keine ruſſiſchen Eroberungen, welche
die Exiſtenz der Türkei und die Jntereſſen Englands gefährden, zu
dulden, ſo läßt ſich ſchwer abſehen, wie ein Konflikt zwiſchen beiden
Mächten vermieden werden kann. Rußland müßte denn noch in letzter

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[34/0038] täriſche Ruf Rußlands auf den Schlachtfeldern Armeniens und der Bulgarei etwa nicht zerſtört und begraben worden? Dieſes Ruß- land iſt wahrhaftig nicht die Macht, vor der England ſich zu beugen hätte. Die von uns vorausgeſehene nächſte Folge des Vorgehens Eng- lands fängt ſchon an ſich zu vollziehen. Das Schienengeleiſe des Drei- kanzlerbundes — bei Dr. Guido Weiß iſt zu erfahren, warum wir von einem Dreikanzlerbund reden — iſt aufgeriſſen, und wenn der koſtbare Zug auch noch nicht entgleiſt iſt, ſo iſt der Waggon Oeſterreich doch in bedenkliches Schwanken gerathen und dürfte bald von dem Reſte losgetrennt und auf ein anderes Geleiſe übergeſprungen ſein, während die zwei anderen Waggons auf der alten Bahn weiter fahren — wohin? das wiſſen die Herren Kondukteure ſo wenig wie wir. Jn verſchiedenen öſterreichiſchen, ſogar offiziöſen Blättern drängt der Gedanke ſich ſchon vor, jetzt, da England die Jnitiative ergriffen habe, brauche Oeſterreich, das wider ſeinen Willen bisher neutral geblieben ſei, (man leſe z. B. den „Peſter Lloyd‟) ſich nicht länger vergewaltigen zu laſſen und könne ſeine eigene Politik treiben, ſtatt die ſeiner Feinde. Dieſe Meinungsäuße- rungen ſind freilich nur „Papierſchnitzel‟, aber „Papierſchnitzel‟, welche die veränderte Windrichtung verrathen. So viel ſteht feſt, die von der deutſchen Regierung zugeſtandene Erneuerung des deutſch- öſterreichiſchen Handelsvertrages auf ſechs Monate iſt für Oeſterreich kein genügender Grund, Rußland und dem Fürſten Bismarck zu Liebe, einen politiſchen Selbſtmord zu begehen. Ein Wort an die deutſchen Social-Demokraten! („Socialdemokratiſche Correſpondenz‟ vom 3. Januar 1878.) I. Jmmer bedrohlicher geſtaltet ſich die Weltlage — immer bren- nender wird die Gefahr, daß aus dem ruſſiſch-türkiſchen Krieg ein europäiſcher Krieg hervorgehen werde. Die engliſche Regierung hat ſich endlich zur Aktion aufgerafft, und — unzweifelhaft im Einver- ſtändniß und nach Verabredung mit der Pforte — die Rolle des Friedens-Vermittlers übernommen. Da nun Rußland erobern will, und England entſchloſſen iſt, keine ruſſiſchen Eroberungen, welche die Exiſtenz der Türkei und die Jntereſſen Englands gefährden, zu dulden, ſo läßt ſich ſchwer abſehen, wie ein Konflikt zwiſchen beiden Mächten vermieden werden kann. Rußland müßte denn noch in letzter

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Zitationshilfe: Liebknecht, Wilhelm: Zur orientalischen Frage oder Soll Europa kosakisch werden? 2. Aufl. Leipzig, 1878, S. 34. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/liebknecht_frage_1878/38>, abgerufen am 19.04.2024.