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Liszt, Franz von: Das deutsche Reichsstrafrecht. Berlin u. a., 1881.

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Die Lehre vom Kausalzusammenhange. §. 20.
menwirken mit allen übrigen kausal. Alle Bedingungen sind
objektiv gleichwertig; eine Verschiedenheit existiert nur in un-
serer subjektiven Vorstellung. So gelangen wir zu dem
(nur scheinbar dem Begriffe der Ursache widersprechenden)
Resultate: jede Bedingung ist kausal. Und mit Rück-
sicht auf die menschliche Handlung: wer immer durch
seine Körperbewegung eine Bedingung zu dem
eingetretenen Erfolge gesetzt hat, hat denselben
mit bewirkt
.

II. Die praktischen Konsequenzen dieses Satzes werden
wir sofort kennen lernen. Aber vorher ist eine scheinbare
Abschweifung nötig.

Je nach dem Standpunkte unserer Betrachtung isolieren
wir eine oder die andere Bedingung und nennen sie Ursache.
Wir gelangen zur Wahl, indem wir entweder

1. eine Anzahl von Bedingungen, weil regelmäßig vor-
handen, als gegeben voraussetzen, und nun die ausnahms-
weise hinzutretende als Ursache bezeichnen; oder

2. indem wir uns die günstigen und ungünstigen Be-
dingungen als sich das Gleichgewicht haltend vorstellen,
so daß uns die hinzutretende das Gleichgewicht störende Be-
dingung als Ursache erscheint.

Auf dem ersten Wege gelangt v. Bar, auf dem
zweiten Binding zu seiner Definition des Ursachenbegriffes.
Beide Definitionen sind nicht nur identisch sondern auch an
sich gleich richtig. Beide werden gleich unrichtig, sobald man
glaubt, daß dieser "Ursache" reale Existenz zukommt, und
darauf weitere Schlüsse baut. Wenn die beiden regelmäßig
vorhandenen Kräfte a und b den Punkt M nach N bewegen,
und nun durch das Hinzutreten der Kraft c eine Bewegung
nach N' eintritt, oder wenn die gleich stark gedachten Kräfte-

Die Lehre vom Kauſalzuſammenhange. §. 20.
menwirken mit allen übrigen kauſal. Alle Bedingungen ſind
objektiv gleichwertig; eine Verſchiedenheit exiſtiert nur in un-
ſerer ſubjektiven Vorſtellung. So gelangen wir zu dem
(nur ſcheinbar dem Begriffe der Urſache widerſprechenden)
Reſultate: jede Bedingung iſt kauſal. Und mit Rück-
ſicht auf die menſchliche Handlung: wer immer durch
ſeine Körperbewegung eine Bedingung zu dem
eingetretenen Erfolge geſetzt hat, hat denſelben
mit bewirkt
.

II. Die praktiſchen Konſequenzen dieſes Satzes werden
wir ſofort kennen lernen. Aber vorher iſt eine ſcheinbare
Abſchweifung nötig.

Je nach dem Standpunkte unſerer Betrachtung iſolieren
wir eine oder die andere Bedingung und nennen ſie Urſache.
Wir gelangen zur Wahl, indem wir entweder

1. eine Anzahl von Bedingungen, weil regelmäßig vor-
handen, als gegeben vorausſetzen, und nun die ausnahms-
weiſe hinzutretende als Urſache bezeichnen; oder

2. indem wir uns die günſtigen und ungünſtigen Be-
dingungen als ſich das Gleichgewicht haltend vorſtellen,
ſo daß uns die hinzutretende das Gleichgewicht ſtörende Be-
dingung als Urſache erſcheint.

Auf dem erſten Wege gelangt v. Bar, auf dem
zweiten Binding zu ſeiner Definition des Urſachenbegriffes.
Beide Definitionen ſind nicht nur identiſch ſondern auch an
ſich gleich richtig. Beide werden gleich unrichtig, ſobald man
glaubt, daß dieſer „Urſache“ reale Exiſtenz zukommt, und
darauf weitere Schlüſſe baut. Wenn die beiden regelmäßig
vorhandenen Kräfte a und b den Punkt M nach N bewegen,
und nun durch das Hinzutreten der Kraft c eine Bewegung
nach N′ eintritt, oder wenn die gleich ſtark gedachten Kräfte-

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[77/0103] Die Lehre vom Kauſalzuſammenhange. §. 20. menwirken mit allen übrigen kauſal. Alle Bedingungen ſind objektiv gleichwertig; eine Verſchiedenheit exiſtiert nur in un- ſerer ſubjektiven Vorſtellung. So gelangen wir zu dem (nur ſcheinbar dem Begriffe der Urſache widerſprechenden) Reſultate: jede Bedingung iſt kauſal. Und mit Rück- ſicht auf die menſchliche Handlung: wer immer durch ſeine Körperbewegung eine Bedingung zu dem eingetretenen Erfolge geſetzt hat, hat denſelben mit bewirkt. II. Die praktiſchen Konſequenzen dieſes Satzes werden wir ſofort kennen lernen. Aber vorher iſt eine ſcheinbare Abſchweifung nötig. Je nach dem Standpunkte unſerer Betrachtung iſolieren wir eine oder die andere Bedingung und nennen ſie Urſache. Wir gelangen zur Wahl, indem wir entweder 1. eine Anzahl von Bedingungen, weil regelmäßig vor- handen, als gegeben vorausſetzen, und nun die ausnahms- weiſe hinzutretende als Urſache bezeichnen; oder 2. indem wir uns die günſtigen und ungünſtigen Be- dingungen als ſich das Gleichgewicht haltend vorſtellen, ſo daß uns die hinzutretende das Gleichgewicht ſtörende Be- dingung als Urſache erſcheint. Auf dem erſten Wege gelangt v. Bar, auf dem zweiten Binding zu ſeiner Definition des Urſachenbegriffes. Beide Definitionen ſind nicht nur identiſch ſondern auch an ſich gleich richtig. Beide werden gleich unrichtig, ſobald man glaubt, daß dieſer „Urſache“ reale Exiſtenz zukommt, und darauf weitere Schlüſſe baut. Wenn die beiden regelmäßig vorhandenen Kräfte a und b den Punkt M nach N bewegen, und nun durch das Hinzutreten der Kraft c eine Bewegung nach N′ eintritt, oder wenn die gleich ſtark gedachten Kräfte-

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Zitationshilfe: Liszt, Franz von: Das deutsche Reichsstrafrecht. Berlin u. a., 1881, S. 77. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/liszt_reichsstrafrecht_1881/103>, abgerufen am 28.03.2024.