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Liszt, Franz von: Das deutsche Reichsstrafrecht. Berlin u. a., 1881.

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Das Strafgesetz als Quelle des Strafrechts. §. 7.
die beiden Fragen, ob und wie zu strafen ist, haben wir
ausschließlich aus dem Gesetze zu beantworten. Das, nichts
anderes und nicht mehr, sagt die seit der Aufklärungsperiode
in den Strafgesetzbüchern immer wiederkehrende Rechtsregel:
nullum crimen sine lege, nulla poena sine lege (RStGB.
§. 2 Abs. 1).

II. Für die Auslegung der Strafrechtssätze3 gelten
die allgemeinen, auf allen Gebieten des Rechts zur Anwen-
dung kommenden Regeln.4 Die Beantwortung der vielbe-
sprochenen Frage nach der Zulässigkeit der Analogie auf
dem Gebiete des Strafrechts hängt davon ab, welchen Be-
griff man mit diesem Worte verknüpft. Zweierlei ist zu
unterscheiden. 1. Die Entwicklung eines Rechtssatzes aus
dem Zusammenhange der übrigen, also das Auffinden
eines schon vorhandenen, aber nicht unmittelbar und nicht
ausdrücklich ausgesprochenen Rechtssatzes. Will man dies
(Gesetzes-)Analogie nennen, so unterliegt die unbeschränkte
Zulässigkeit derselben auch auf dem Gebiete des Strafrechts
keinem Zweifel. 2. Das Aufstellen eines neuen weder
unmittelbar noch mittelbar ausgesprochenen Rechtssatzes, der
dem Grundgedanken des Gesetzgebers entspricht und sich dem
System der übrigen Rechtssätze anpaßt; also die Ausfüllung
einer Lücke im Gesetze und zwar dem Geiste desselben entspre-
chend. Die Zulassung der Analogie in diesem Sinne wider-
spricht dem unter I besprochenen Grundsatze. Wissenschaft und
Praxis können Straf-Rechtssätze auffinden, nicht schaffen.
Dabei mag zugegeben werden, daß die Scheidung beider
Operationen im einzelnen Falle schwierig werden kann.

3 [Spaltenumbruch] Lit. bei Binding Grund-
riß S. 61.
4 [Spaltenumbruch] Beispiel einer authent. In-[Spaltenumbruch] terpretation (des §. 28 Nr. 3
Sozialist. Ges.) in dem Ges. v.
31. Mai 1880 RGB. Nr. 12.

Das Strafgeſetz als Quelle des Strafrechts. §. 7.
die beiden Fragen, ob und wie zu ſtrafen iſt, haben wir
ausſchließlich aus dem Geſetze zu beantworten. Das, nichts
anderes und nicht mehr, ſagt die ſeit der Aufklärungsperiode
in den Strafgeſetzbüchern immer wiederkehrende Rechtsregel:
nullum crimen sine lege, nulla poena sine lege (RStGB.
§. 2 Abſ. 1).

II. Für die Auslegung der Strafrechtsſätze3 gelten
die allgemeinen, auf allen Gebieten des Rechts zur Anwen-
dung kommenden Regeln.4 Die Beantwortung der vielbe-
ſprochenen Frage nach der Zuläſſigkeit der Analogie auf
dem Gebiete des Strafrechts hängt davon ab, welchen Be-
griff man mit dieſem Worte verknüpft. Zweierlei iſt zu
unterſcheiden. 1. Die Entwicklung eines Rechtsſatzes aus
dem Zuſammenhange der übrigen, alſo das Auffinden
eines ſchon vorhandenen, aber nicht unmittelbar und nicht
ausdrücklich ausgeſprochenen Rechtsſatzes. Will man dies
(Geſetzes-)Analogie nennen, ſo unterliegt die unbeſchränkte
Zuläſſigkeit derſelben auch auf dem Gebiete des Strafrechts
keinem Zweifel. 2. Das Aufſtellen eines neuen weder
unmittelbar noch mittelbar ausgeſprochenen Rechtsſatzes, der
dem Grundgedanken des Geſetzgebers entſpricht und ſich dem
Syſtem der übrigen Rechtsſätze anpaßt; alſo die Ausfüllung
einer Lücke im Geſetze und zwar dem Geiſte desſelben entſpre-
chend. Die Zulaſſung der Analogie in dieſem Sinne wider-
ſpricht dem unter I beſprochenen Grundſatze. Wiſſenſchaft und
Praxis können Straf-Rechtsſätze auffinden, nicht ſchaffen.
Dabei mag zugegeben werden, daß die Scheidung beider
Operationen im einzelnen Falle ſchwierig werden kann.

3 [Spaltenumbruch] Lit. bei Binding Grund-
riß S. 61.
4 [Spaltenumbruch] Beiſpiel einer authent. In-[Spaltenumbruch] terpretation (des §. 28 Nr. 3
Sozialiſt. Geſ.) in dem Geſ. v.
31. Mai 1880 RGB. Nr. 12.
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[25/0051] Das Strafgeſetz als Quelle des Strafrechts. §. 7. die beiden Fragen, ob und wie zu ſtrafen iſt, haben wir ausſchließlich aus dem Geſetze zu beantworten. Das, nichts anderes und nicht mehr, ſagt die ſeit der Aufklärungsperiode in den Strafgeſetzbüchern immer wiederkehrende Rechtsregel: nullum crimen sine lege, nulla poena sine lege (RStGB. §. 2 Abſ. 1). II. Für die Auslegung der Strafrechtsſätze 3 gelten die allgemeinen, auf allen Gebieten des Rechts zur Anwen- dung kommenden Regeln. 4 Die Beantwortung der vielbe- ſprochenen Frage nach der Zuläſſigkeit der Analogie auf dem Gebiete des Strafrechts hängt davon ab, welchen Be- griff man mit dieſem Worte verknüpft. Zweierlei iſt zu unterſcheiden. 1. Die Entwicklung eines Rechtsſatzes aus dem Zuſammenhange der übrigen, alſo das Auffinden eines ſchon vorhandenen, aber nicht unmittelbar und nicht ausdrücklich ausgeſprochenen Rechtsſatzes. Will man dies (Geſetzes-)Analogie nennen, ſo unterliegt die unbeſchränkte Zuläſſigkeit derſelben auch auf dem Gebiete des Strafrechts keinem Zweifel. 2. Das Aufſtellen eines neuen weder unmittelbar noch mittelbar ausgeſprochenen Rechtsſatzes, der dem Grundgedanken des Geſetzgebers entſpricht und ſich dem Syſtem der übrigen Rechtsſätze anpaßt; alſo die Ausfüllung einer Lücke im Geſetze und zwar dem Geiſte desſelben entſpre- chend. Die Zulaſſung der Analogie in dieſem Sinne wider- ſpricht dem unter I beſprochenen Grundſatze. Wiſſenſchaft und Praxis können Straf-Rechtsſätze auffinden, nicht ſchaffen. Dabei mag zugegeben werden, daß die Scheidung beider Operationen im einzelnen Falle ſchwierig werden kann. 3 Lit. bei Binding Grund- riß S. 61. 4 Beiſpiel einer authent. In- terpretation (des §. 28 Nr. 3 Sozialiſt. Geſ.) in dem Geſ. v. 31. Mai 1880 RGB. Nr. 12.

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Zitationshilfe: Liszt, Franz von: Das deutsche Reichsstrafrecht. Berlin u. a., 1881, S. 25. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/liszt_reichsstrafrecht_1881/51>, abgerufen am 25.04.2024.